Der Gouverneur bei einer Truppenbesichtigung
Bildrechte: Tula-Regierung/Picture Alliance

Als neuer Verteidigungsminister im Gespräch: Alexej Djumin

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Putins Rücktritt gefordert: "Steuermann blind und taub"

Aus Kreisen der russischen Ultrapatrioten wird der Präsident gedrängt, sein Amt "legal" abzugeben, falls er unwillig sei, die Verantwortung für den Krieg zu übernehmen. Das System sei "teilweise dysfunktional", sagen Propagandisten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Das gesamte derzeitige System basiert auf der Verantwortungslosigkeit der Eliten; Wenn der Präsident nicht bereit ist, die Verantwortung für den Krieg zu übernehmen, muss er seine Befugnisse legal übertragen", heißt es in einem Appell des bekannten russischen Ultrapatrioten Igor Strelkow, der seine Leute einen Tag nach der Rebellion in Moskau zu einer Tagung zusammengerufen hatte. Strelkow gründete den "Club der zornigen Patrioten" und kritisiert Putin seit langem öffentlich - und ungestraft. Doch eine derart unverhohlene Rücktrittsforderung ist so ungewöhnlich, dass darüber auch internationale Medien wie die "Moscow Times" berichteten. "Putin und andere Vertreter der Eliten zeigen kein Verständnis dafür, dass der Krieg bis zum Sieg geführt werden muss", heißt es weiter in dem Aufruf. Strelkow und seine Anhänger fordern die Einführung des Kriegsrechts in ganz Russland.

"Diktatoren fürchten Alternativen"

Auch einige Blogger wie Politologe Maxim Scharow trauten sich bereits vorsichtig, nach der Rebellion die Frage nach Putins persönlicher Zukunft auf die Tagesordnung zu setzen: "Die Hauptfrage, die alle interessiert und die der Kreml in naher Zukunft irgendwie beantworten muss, lautet: 'Wie war das möglich?' Wenn es auf diese Frage keine Antwort gibt und im Rahmen der üblichen Manipulationen alles so bleibt, wie es ist, dann besteht die Versuchung, nicht nur das 'Problem 2024' [die kommende russische Präsidentenwahl] anzugehen und einige der momentanen persönlichen und beruflichen Probleme zu lösen, dann wird die Frage auch in vielen Teilen der Elite ventiliert werden."

Ähnlich formulierte ein weiterer Blogger: "Dem Putin-Regime und dem Staat insgesamt wurde ein schwerer Schlag versetzt. Natürlich hätte es noch viel schlimmer kommen können, wenn in der Region Moskau Feindseligkeiten ausgebrochen wären, aber schon das, was passiert ist, reicht aus, um die Frage einer Wiederwahl Putins für eine weitere Amtszeit aufzuwerfen." Solche Meinungsäußerungen auf vergleichsweise kleinen und kleinsten Blogs bekommen deshalb große Aufmerksamkeit, weil sie von den einflussreichen Nachrichten-Plattformen mit vielen Hunderttausend Followern weiterverbreitet werden.

Bei allem Entsetzen über die Söldner-Rebellion und Putins Passivität haben die Russen ihren Witz übrigens nicht verloren: "Gestern tauchte ein neuer auf: 2021 ist die russische Armee die zweite der Welt, 2022 die zweite in der Ukraine, 2023 die zweite in Russland."

Russland-Experte Stephen Kotkin sagte in einem langen Interview mit dem US-Fachblatt "Foreign Affairs", Putin habe durch den erfolglosen Krieg seinen "Nimbus" verloren: "Es gibt eine Sache, die alle Diktatoren zu Recht fürchten: eine Alternative. Und Putin hat schockierender Weise zugelassen, dass Alternativen Gestalt annehmen, nachdem er jahrelang unermüdlich Alternativen unterdrückt und unbedeutende Figuren in seinem inneren Kreis begünstigt hat, um sicherzustellen, dass ihm niemand gefährlich werden kann."

"Schauen Sie sich Prigoschins Sprachrhythmus an"

Prigoschin sei durchaus ein möglicher Kandidat, so Kotkin, schließlich komme er anders als der Präsident aus einer Intellektuellen-Familie. Seine Mutter Violetta habe ja Galerien eröffnet ("Colours of Life"): "Er spricht besser Russisch als Putin. In Bezug auf die soziale Klasse liegt er tatsächlich eine Stufe über Putin. Prigoschins künstlerische Ader wird in seinen Videos sichtbar. Er kann zwar nicht eins und eins zusammenzählen, in Mathematik ist er schwach, was seine Videos auch beweisen. Aber schauen Sie sich sein prägnantes und pointiertes Vokabular an, seinen Sprachrhythmus, seine Fähigkeit, die Rolle des harten Kerls zu spielen, des aufrichtigen russischen Patrioten, des Wahrsagers, der die Opportunisten, Idioten und Diebe anprangert, die Putin eingesetzt hat."

Rufe nach Entmachtung der Armeespitze

Unterdessen gibt sogar der kremlnahe Propagandist und Politologe Sergej Markow zu: "Die Meuterei zeigte, dass das russische staatliche System der Führung und Kontrolle der Regierungseinrichtungen teilweise dysfunktional ist. Schließlich löste der berühmteste und kampfbereiteste Teil des Sicherheitsapparats einen Aufstand aus. Und schließlich konnte die Regierung den Aufstand nicht ernsthaft stoppen. Sie musste verhandeln. Und schließlich konnten die Geheimdienste die Führung vor der Rebellion weder warnen noch sie im Keim ersticken."

Markow ist sich mit den "Experten" einig, dass der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu durch den Gouverneur der Region Tula, Alexej Djumin ersetzt wird. Neuer Generalstabschef soll General Surowikin werden, der für den Aufbau einer befestigten Verteidigungslinie entlang der Front zuständig war: "Das wird jedoch nicht sofort geschehen, so dass es nicht so aussieht, als ob Schoigu und [Noch-Generalstabschef] Gerassimow auf Wunsch der Rebellen entmachtet werden." Gerüchteweise hieß es, der Kreml habe Prigoschin versprechen müssen, dass die beiden Männer an der Armeespitze bis spätestens 10. Juli gehen müssen. "In einer der Schlüsselpositionen als Verteidigungsminister und Generalstabschef sollte ein beliebter General auftreten, dem die Truppen in einem kritischen Moment auch gehorchen", forderte Markow.

"Putin von der Bildfläche verschwunden"

Selbst kremlnahe Kreise, die das Exil-Portal "Meduza" befragt haben will, räumten ein, dass Putins Position "geschwächt" sei. Der Präsident sei nach seiner TV-Ansprache richtiggehend von der "Bildfläche verschwunden" und habe sich geweigert, mit dem aufständischen Prigoschin Kontakt aufzunehmen. Es hieß, Putin habe Moskau eilig verlassen und sich auf seinen Landsitz Waldai zurückgezogen, auch, wenn sein Sprecher Peskow beteuerte, der Präsident habe die ganze Zeit im Kreml gearbeitet.

Weil der Söldnerführer gefordert habe, mit der Regierungsspitze zu verhandeln, sei die Lage für den Kreml schwierig geworden: Putin sei jetzt nur noch eine Art "Monarch" oder "Aushängeschild", so ein Gesprächspartner von "Meduza". Wie sehr der Präsident beschädigt sei, werde sich in den kommenden Tagen herausstellen: "Putin beugt sich fast nie den Umständen und gibt Druck nicht nach." Sollte er also trotzdem kurzfristig gezwungen sein, Schoigu in die Wüste zu schicken, wird das jeder kundige Beobachter auf Prigoschins Rebellion zurückführen.

"Sie haben nichts kaputt gemacht"

Bezeichnend ist, dass der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, Andrej Kartapolow, ein Verbot der Wagner-Söldner ausschloss, und das nach einer Meuterei, die das gesamte System erschütterte: "Sie haben niemanden beleidigt, sie haben nichts kaputt gemacht. Niemand hat den geringsten Anspruch gegen sie – weder die Einwohner von Rostow noch das Militärpersonal des südlichen Militärbezirks noch die Strafverfolgungsbehörden. Was bleibt also zu fragen? Es gibt keine Beschwerden über sie. Wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen wollen, werden sie ihn unterschreiben. Wenn sie das nicht wollen, dann steht es jedem Menschen frei, sein eigenes Schicksal zu wählen, er wird dann etwas anderes tun."

Schon Stalin habe gesagt, dass "Kinder nicht für ihre Eltern" hafteten, so Kartapolow: "Die Wagner-Truppe ist mittlerweile die kampfstärkste Einheit in Russland, und das wird von allen anerkannt, auch von Vertretern der Streitkräfte. Sie aufzulösen, zu entwaffnen und zu zerstreuen – man kann sich kein besseres Geschenk für die NATO und die Ukrainer vorstellen." Eine Ansicht, die nach den Vorkommnissen vom 24. Juni mehr als verwundert, ebenso wie die Meldung, dass die Rekrutierungsbüros von "Wagner" ihre Arbeit in ganz Russland schon am Sonntag nach dem Aufstand wieder aufgenommen haben.

Dazu passt eine Äußerung des oben zitierten Sergej Markow, wonach Verräter in "vitalen" Regimen schnellstmöglich entfernt und abgeurteilt würden: "Wo das System allerdings bis zur Leblosigkeit erstarrt ist, tun sie so, als sei nichts geschehen. Und lassen die Verräter ungeschoren. Und diese Leute werden uns das nächste Mal in einem wichtigen Moment wieder verraten."

"Steuermann ist taub und blind"

In den russischen Netzkommentar-Foren wird so angeregt und vergleichsweise freimütig über Putin debattiert wie lange nicht mehr: "Im Rudel wird der alte Anführer immer von dem jüngeren und mutigeren Konkurrenten herausgefordert und nach einem Kampf verdrängt. Aber eine normale Gesellschaft sollte nicht nach den Gesetzen der Tiere leben, sie muss nach den Gesetzen der Menschen leben." In Russland würden Spitzenkräfte in der Regel "nicht durch vom Volk Gewählte" ersetzt, sondern von Leuten mit ähnlicher Gesinnung wie ihre Vorgänger - "nur motivierter". Die Öffentlichkeit habe schon verstanden, meinte ein Leser: "Die Milch ist bereits verschüttet, Sie können sie nicht mehr zurück gießen."

"Die Regierung hat nicht die Unterstützung des Volkes. Das ist jetzt klar. Die Macht liegt nicht mehr bei Putin. Putin ist nur ein Aushängeschild. Ganz allgemein unterstützt die Bevölkerung die Rebellen. Und das ist ein Indikator dafür, dass das Land den falschen Weg einschlägt und der Steuermann blind und taub ist", traut sich ein Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" zu schreiben, und das Blatt zensierte die Äußerung nicht.

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