Angehörige der Wagner-Gruppe sitzen am Samstag Abend in Rostow am Don auf der Ladefläche eines LKW , bevor sie sich nach dem gescheiteren Aufstand zurückziehen.
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Jewgeni Prigoschin verlässt Rostow

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"Sie rannten wie Kakerlaken": So erschüttert ist Putins Regime

Es gab keinen ernsthaften Widerstand gegen die Rebellion von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin, was die russische Öffentlichkeit aufwühlt. Das Land bewege sich "in die falsche Richtung", die Behörden seien blamiert, der Kreml geriet unter Druck.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Das erste, was auffiel, ist das Verhalten unserer Oligarchen und hohen Beamten. Sie rannten wie die Kakerlaken. Alle ihre Jets hoben sofort ab. Aber das Bemerkwerteste war die Welle von Lügen, wonach sie alle an Ort und Stelle geblieben seien und nur ihre Flugzeuge im Ausland sind", hieß es in einem der größten politischen Blogs mit 460.000 Fans. "Uns wurde ein Beispiel des politischen Darwinismus offenbart. Außerdem fiel die absolute Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft der Sicherheitskräfte auf, mit Informationen umzugehen." Die Bilanz sei für den Kreml verheerend - es habe sich herausgestellt, dass es (fast) niemanden gebe, der Putin mit der Waffe in der Hand verteidigen wolle.

"Ausmaß der Angst war durchschnittlich"

Hunderte von Spitzenbeamten hätten auf Knopfdruck Urlaub genommen oder sich krank gemeldet: "Ein separates Problem gibt es mit der Polizei. Ja, es gab Informationen, dass Dreiviertel des Personals sich weigerten, gegen Wagner-Söldner vorzugehen, aber aus welchem ​​Grund ist unklar. Gleichzeitig betrachtete das gesamte Volk den Aufstand als 'die Angelegenheit der Elite'." Äußerst kritische Anmerkungen gab es zum Zustand des Justizsystems: "Das Gesetz hat jegliche Kraft verloren, auch schwere Verbrechen werden aus politischen Zweckmäßigkeitsgründen nicht bestraft. Am Morgen werden Sie zum Verräter erklärt, und am Abend wird ihnen vergeben und das Strafverfahren eingestellt", meinte ein Blogger sarkastisch.

Interessant war folgende, nicht repräsentative Beobachtung: "Eine spontane Umfrage unter Vertretern der intellektuellen Schicht in Moskau zeigte, dass die Grundstimmung, mit der die Menschen die Entwicklung der Ereignisse verfolgten, Neugier war. Das Ausmaß der Angst war dagegen nur durchschnittlich, der Wunsch, sich dazu eine Meinung zu bilden, fehlte praktisch." Eine Umschreibung dafür, dass den Künstlern und Wissenschaftlern das Schicksal Putins und seiner Leute ziemlich egal war.

"Meister der Gleichgültigkeit"

Für die breite Masse der Bevölkerung sei es nur ein "interessanter Samstag" gewesen, urteilte ein Kommentator: "Einerseits war es ihnen egal, was vor sich ging. Sie traten weder zur Unterstützung der Rebellion noch zur Verteidigung der Regierung auf. Aber andererseits, gestützt auf die Daten über das Wachstum des Internetverkehrs, verfolgten sie diese Aufführung mit Vergnügen und genossen von den hinteren Reihen des Zuschauerraums aus die Art und Weise, wie Schauspieler mit ihrem Ego jonglierten und politische Spiele zum Besten gaben." Die Russen seien eben "wahre Meister der Gleichgültigkeit".

"Blinder Elch im brennenden Wald"

Blogger Michail Winogradow schrieb: "Vielleicht gibt es keine einzige Institution, die sich als würdig erwiesen hat. Jeder erlitt Reputationsrisiken. Das System als Ganzes hat, nicht zum ersten Mal, einen Mangel an Mitspielern gezeigt, die in der Lage und willens sind, offen für das System als Ganzes einzutreten." Es bleibe nur noch das Gefühl der "Verwüstung", und zwar auf allen Seiten: Bei denen, die aufrichtig der Meinung gewesen seien, für das "Gute" einzutreten und bei denen, die sich eine Veränderung wünschten.

In einem weiteren maßgeblichen Portal war zu lesen: "Prigoschin mag sich zwar vorübergehend zurückgezogen haben, hegt jedoch Pläne für eine Rückkehr, und die Verwaltungseliten, denen er nie nahe stand, haben sich in der öffentlichen Meinung als unsystematisch und unberechenbar herausgestellt." Bezeichnend war die Wortwahl eines politischen Beobachters mit 56.000 Followern: "Wir rennen wie ein blinder Elch durch einen brennenden Wald, das Schicksal führt uns."

"Selbst imaginäre Alternative findet Zustimmung"

Die Rebellion habe die ganze Schwäche des autoritären Regimes bloßgestellt, erklärte einer der Polit-Blogger: "Einerseits sahen wir, dass trotz der hohen Zustimmungsraten in Meinungsumfragen in einer Krisensituation niemand begann, das Regime und seinen Führer aus eigener Initiative zu unterstützen (von den Behörden diktierte Solidaritätserklärungen zählen nicht). Andererseits findet selbst eine imaginäre Alternative zum gegenwärtigen Regime (was auch immer diese Alternative sein mag) sowohl auf den Straßen Rostows als auch in einem Teil der politisierten Öffentlichkeit Zustimmung." Die politische Unterstützung des Status quo sei "äußerst fragil" und könne jederzeit zusammenbrechen.

Alexander Baunow vom Carnegie-Institut zeigte sich überrascht, dass Rostower Bürger die Panzer von Prigoschins Truppe mit Blumen schmückten: "Das ist buchstäblich eine Anlehnung an die Geste der Nelkenrevolution in Portugal im Jahr 1974, die sich dann auf der ganzen Welt ausbreitete. Das heißt, es ist eine genaue Wiederholung der symbolischen Geste der ersten, beispielhaften Farbenrevolution, die von den Bürgern des Landes durchgeführt wurde, die seit fast 20 Jahren Angst vor Farbrevolutionen haben sollten und beigebracht bekamen, dass es keinen schlimmeren Verrat auf der Welt gibt als diese."

Es sei "lustig und beängstigend" gewesen, so Baunow: " Politisch und ideologisch scheint Russland mittlerweile in einer solchen Sackgasse zu stecken, dass selbst friedliebende und freiheitsliebende Menschen hoffnungsvoll auf alles reagieren, was sie da rausholen kann – obwohl Prigoschin weder friedliebend noch freiheitsliebend ist. Sein Programm der allgemeinen Mobilisierung und Verstaatlichung ist härter als das Putins und richtet sich eindeutig an Menschen mit mobilisierenden, anti-elitären und sogar antikapitalistischen Gesinnungen." Immerhin sehe Putin nicht wie ein "totaler Verlierer" aus. Der Apparat habe "Loyalität" bewiesen, wenn auch mit "enormen Stress".

"Putin gibt es nicht mehr"

Der Politologe Maxim Trudoljubow glaubt in einer Analyse für das Exil-Portal "Meduza", dass Putin als sprichwörtlicher "nackter König" da steht, der auch seinen Hofstaat blamiert und somit jegliches Renommee verloren habe: Gleich am Beginn des Krieges habe sich herausgestellt, dass Putin auf falsche Informationen seines Geheimdienstes hereingefallen war, dann habe die Armee an der Front versagt, schließlich hätten ukrainische Einheiten sogar die Grenze zu Russland überschritten und jetzt sei er mit Prigoschins Rebellion völlig bloßgestellt. Jeder wisse, dass dem Regime sein "Verfall" drohe - einzig die Angst der Elite, ebenfalls "nackt" da zu stehen, verlängere Putins Tage im Kreml.

Soziologe und Ökonom Wladislaw Inozemtsew fasste die Lage in einem Interview mit der "Novaya Gazeta Europe" in dem Satz zusammen, Putin sei ein Opfer seiner "idiotischen" Neigung geworden, alle gegeneinander auszuspielen: "Den bisher bekannten Putin gibt es nicht mehr. Putin hat gestern Schluss gemacht. Er ist einfach weggelaufen." Das System habe überhaupt nur noch eine Chance zu überleben, wenn sich jüngere Kräfte vereinigten und die bisherige Kreml-Elite entmachteten: "Wissen Sie, wie ein Defibrillator den Herzmuskel aktiviert? Nur ein solch radikaler Neustart des Systems kann es retten. Dann kann es ohne Putin bestehen. Wenn es ohne Putin nicht geht, ist es völlig erledigt. Putin gibt es nicht mehr."

"Schwächen in ihrer ganzen Pracht"

Der rechtsextreme "Kreml-Philosoph" Alexander Dugin meinte: "Es stellt sich heraus, dass viele sogar den Präsidenten und das Volk in den Schatten stellen und angeblich in seinem Namen handeln, aber die Rettung des Vaterlandes in einer kritischen Situation nicht als ihre Aufgabe betrachten. Es ist besser, teure Tickets ins Ausland zu kaufen. Die gestrige Desertion der Eliten ist gemeiner als die Flucht von Wehrpflichtigen nach Georgien. Es gibt nur eine systemische Lösung: die unmittelbare und echte patriotische Ideologisierung der herrschenden Klasse und die Rotation der Eliten." Von diesen müsse "Heldentum" erwartet werden, auch "angemessenes Verhalten im Ernstfall": "Die Schwächen unseres Systems sind gestern in ihrer ganzen Pracht zutage getreten."

"Die Menschen in Russland sahen, dass das Land fast in eine Krise gestürzt wäre. Und jeder hat verstanden, dass die Regierung ihre Politik sehr ernsthaft ändern muss", gesteht sogar der Propagandist Sergej Markow, der sonst um keine Putin-Eloge verlegen war. "Es ist klar geworden, dass man nicht die Experten um Rat fragen sollte, die so sehr versagt haben, sondern die Menschen." Im entscheidenden Moment würden sich die Kreml-Funktionäre stets wie ihre Vorgänger in der KPdSU in die Büsche schlagen.

"Politik mit anderen Mitteln"

Einer der wichtigsten Militärblogger, Boris Rohzin, ist überzeugt, dass Prigoschin weiterhin ein wichtiger Akteur bleiben wird: "Aus meiner Sicht werden Söldnerfirmen als solche auf keinen Fall verschwinden. Sie sind (bei entsprechender Vorbereitung) ein Instrument zur Verfolgung öffentlicher Politik mit anderen Mitteln, wenn sie dort zum Einsatz kommen, wo der Staat nicht offen agieren kann oder will. Diese Situation ist durch die Entwicklung des Konzepts hybrider Kriege entstanden, die in einer Art Grauzone stattfinden, in der der Krieg zwar stattfindet, aber nicht erklärt wurde."

Video: Wagner-Truppen verlassen Rostow

Wagner-Truppen verlassen Rostow
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Wagner-Truppen verlassen Rostow

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