Der russische Oppositionelle auf einem Bildschirm
Bildrechte: Alexander Zemlianischenko/Picture Alliance

Alexej Nawalny im August 2023 vor Gericht

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Okay, ich habe es übertrieben": So lebt Nawalny am Polarkreis

Der bekannteste russische Oppositionspolitiker meldete sich per Videoschalte aus einem arktischen Straflager und zeigte sich empört über einen Bewacher, der ihm Schreibmaterial entwendete. Vor Gericht gab sich Nawalny so "einsichtig" wie humorvoll.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Alexej Nawalny sitzt derzeit in einem Gefängnis in Charp, jenseits des Polarkreises, unweit des berüchtigten Straflagers Workuta. "Es gibt nur wenige Dinge, die so belebend sind wie ein Spaziergang in [der arktischen Region] Jamal morgens um 6.30 Uhr", postete er kürzlich auf seinem Telegram-Kanal: "Was für eine herrlich frische Brise in den Innenhof weht, trotz Betonmauer, wow!" Grund für die sarkastische Botschaft: Nawalny war auch in seinem neuen Haftquartier wegen angeblicher Verstöße gegen die Hausordnung für sieben Tage in eine Strafzelle gesperrt worden, so dass er seinen Hofgang nicht wie üblich nachmittags antreten durfte, wenn es etwas "wärmer" ist, sondern zur kältesten Tageszeit rausgeschickt wurde: "Elf Schritte längs und drei Schritte quer, kein großer Spaziergang, aber zumindest etwas Bewegung, also gehe ich raus."

"Möglichst ein heißer Elefant"

Kälter als -32 Grad sei es bis jetzt noch nicht gewesen und über das Essen beklagte sich der Putin-Gegner auch nicht. Allerdings müsse sich jeder, der länger als eine halbe Stunde draußen verbringe, neue "Nase, Ohren und Finger" zulegen: "Ich habe über Leonardo DiCaprio und den Trick des von ihm gespielten Helden mit einem toten Pferd im Film 'Der Rückkehrer' nachgedacht. Ich glaube nicht, dass er hier funktionieren würde. Ein totes Pferd [das der Hauptdarsteller in dem Western ausweidet, um sich im Kadaver vor der Eiseskälte zu schützen] würde hier in etwa 15 Minuten gefrostet. Was wir hier brauchen, ist ein Elefant, möglichst ein heißer Elefant, ein gebratener. Wenn man einem frisch aufgewärmten Elefanten den Bauch aufschneidet und hineinklettert, kann man sich eine Weile aufwärmen."

Zum ersten Mal seit rund einem Monat wurde Nawalny nun für ein Gerichtsverfahren per Video aus dem Hohen Norden zugeschaltet. Das russische Exil-Portal "Mediazona" protokollierte den Auftritt. Demnach begrüßte der Dissident seine Peiniger mit den Worten, er müsse vor Rührung erst mal "eine Träne wegwischen", weil er sich so sehr "freue", die Verfahrensbeteiligten zu sehen. An ihn gerichtete Briefe und Telegramme hätten ihn in der Arktis noch nicht erreicht: "Ich bin ziemlich weit weg."

"Als wäre er der Big Boss"

Grund für das Verfahren: Nawalny hält die Einweisung in die Strafzelle im vergangenen Oktober in seinem früheren Straflager wegen "unanständiger Worte" für unberechtigt. Ein Gericht habe ihm ausdrücklich Schreibzeug zugebilligt: "Ein Aufseher beschloss, sich aufzuspielen und aus irgendeinem Grund betrat er, als er am Abend eine Matratze ausgab, so auftrumpfend und trotzig meine Zelle und nahm mir meinen Stift weg. Ich habe ihn vor illegalem Verhalten gewarnt, aber nachdem er weiterhin herumgelaufen ist und sich so verhalten hat, als wäre er der Big Boss, habe ich ihm – keine Schimpfwörter – ausdrücklich gesagt, was ich darüber denke."

Dabei beließ es Nawalny allerdings nicht: "Okay, ich hätte den Inspektor nicht einen Teufel oder, in der Gefängnissprache, einen Satan nennen sollen. Ich gebe zu, ich habe es hier übertrieben – so sollte niemand genannt werden. Aber unter den gegebenen Umständen, abgesehen davon, dass ich die Person belehrt habe, sind zwölf Tage in einer Strafzelle illegal." Auch die Schmähungen "Vogelscheuche" und "Esel" sollen gefallen sein. Nawalny behauptete ironisch, das Personal habe womöglich eine "Nackt-Party" gefeiert, als er in den Isolationstrakt geführt wurde, eine Anspielung auf die wochenlange Aufregung wegen einer Erotik-Party von Prominenten in Moskau. Vielleicht sei es aber auch nur eine "Karaoke-Party" gewesen.

Kampf um die Bibel und die Psalmen

In einem Video, das in der Verhandlung vorgeführt worden sein soll, sagte Nawalny nach Angaben von "Mediazona" zum Aufseher: "Geh und arbeite auf der Kolchose, verstehst du? Hast du dich mal im Spiegel gesehen?" Damit konfrontiert, sagte der Politiker demnach: "Ich gebe zu, dass das beleidigende Schimpfwörter waren, aber die Situation wurde durch eine völlig illegale, unmotivierte und dumme Durchsuchung provoziert, die Inspektor Brusow aus irgendeinem Grund durchzuführen versuchte, obwohl dort hochrangige Beamte anwesend waren."

In einem weiteren Prozess, der für den 11. Januar angesetzt ist, klagt Nawalny nach eigenen Angaben auf die Herausgabe religiöser Literatur: "Tatsächlich ist es mir in diesem Konservatismus [den Putins Propaganda behauptet] nicht gestattet, das Neue Testament und die Psalmen in meiner Zelle zu haben. Es ist interessant, dass Richter Nefjodow den Fall prüft. Kürzlich erklärte er die LGBT-Bewegung für extremistisch. Nun, das bedeutet, dass er sich definitiv als konservativen Richter versteht und ich das Verfahren zur Beschränkung religiöser Literatur gewinnen sollte." Nawalny vermutet, dass der Kreml die Ausbreitung des radikalen Islam in den Haftanstalten bekämpfen will und deshalb angewiesen hat, die Lektüre religiöser Werke zu untersagen.

Am 2. Februar soll darüber verhandelt werden, dass Nawalny keine Post ausgehändigt wird.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!