Der Präsident auf einer Bühne sitzend vor Werbebanner
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Putin besucht sein "Wahlkampf"-Hauptquartier am 31. Januar 2024

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"Nackt raus in die Kälte": Wie stabil ist Putins Regime?

Der russische Soziologe Wladislaw Inosemsew behauptet, dass der Kreml keine innenpolitischen Gegner mehr habe und deutlich "stärker" sei als vom Westen gemutmaßt. Angebliche Gründe dafür: Die Angst der Russen vor dem Chaos - und geniale Psychologie.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der Kreml habe im Januar diskret versucht, mit Washington einen Waffenstillstand entlang der jetzigen Frontlinie auszuloten, behauptete die Nachrichtenagentur Reuters kürzlich unter Berufung auf russische Quellen. Doch die USA hätten das Angebot ausgeschlagen - ein Gerücht, das Kremlsprecher Dmitri Peskow prompt dementierte. Wie auch immer: Es stellt sich die naheliegende Frage, ob Putin derzeit aus Stärke oder Schwäche handelt.

Dazu hat der kremlkritische russische Publizist Wladislaw Inosemsew, der zu den bekanntesten Gesellschaftswissenschaftlern seines Landes gehört und als Stipendiat zeitweise in Berlin und Wien tätig war, eine unmissverständliche Meinung. In einer aufschlussreichen Analyse für die konservative spanische Zeitung "La Razón" argumentiert der Soziologe, es gebe vor allem zwei Gründe für die ungewöhnliche Stabilität von Putins Herrschaft angesichts des zweijährigen Kriegs. Erstens seien deutlich mehr Russen am Überleben des Regimes interessiert als der Westen annehme, von Geschäftsleuten über wohlhabende Stadtbewohner bis zu Rentnern: "Vielleicht irre ich mich, aber ich würde behaupten, wenn es morgen zusammenbrechen würde, würde es in der russischen Gesellschaft zumindest kurzfristig mehr Verlierer als Gewinner geben, und die kurzfristigen Folgen sind für die allermeisten Gesellschaften immer die wichtigsten."

"Starke Zentralmacht ganz selbstverständlich"

Darüber hinaus habe sich Putins Mannschaft als "sehr solide" erwiesen, es sei ungeachtet des wenig erfolgreichen Krieges "fast niemand" abtrünnig geworden. Es sei sogar denkbar, dass das autoritäre System ohne den Präsidenten überleben könne, vor allem dann, wenn es keine plötzliche Veränderung der politischen Rahmenbedingungen gebe, sondern Zeit für eine gewisse Anpassung bleibe. Die liberale Opposition werde von der Mehrheit der Russen als "Landesverräter" betrachtet und sei somit für Putin kein ernsthafter Gegner.

Inosemsew ergänzt diese Bestandsaufnahme mit dem Hinweis, die Russen hätten sich aus historischen Gründen schon immer "für etwas Besonderes" gehalten, in "religiöser, ideologischer und militärischer Hinsicht", und angesichts der Größe des Landes sei eine (über)-starke zentrale Autorität von jeher "ganz selbstverständlich". Putin habe seit 1999 allerdings auch viel psychologisches Geschick bewiesen, um seine Stellung abzusichern. So sei der "Krim-Konsens" zur Grundlage seiner Politik geworden: Er habe es geschafft, der großen Mehrheit der Russen einzureden, dass "geopolitische und ideologische Aspekte" wichtiger seien als wirtschaftliche. Im Übrigen habe er seine autoritäre Herrschaft geschickt mit einer "weitgehenden" Informations- und Reisefreiheit kombiniert, so dass viele Russen subjektiv nicht das Gefühl hätten, "eingesperrt" zu sein wie einst in der Sowjetunion.

"Nur kleiner Teil der Bevölkerung direkt betroffen"

In einem zeitgleichen Beitrag für die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" schreibt Inosemsew, Russland könne zwar "besiegt, aber nicht geändert" werden: "Ein Krieg, der nur einen kleinen Teil der Bevölkerung direkt betrifft, nicht mit dramatischen Gebietsverlusten einhergeht und keine verheerenden Folgen für die Wirtschaft hat, wird wahrscheinlich nicht zu radikalen politischen Veränderungen führen, auch wenn er aus Sicht der Bevölkerung viele Fehleinschätzungen der Behörden und die mangelnde Professionalität der Beamten und des Militärs offengelegt hat." Revolutionäre Veränderungen könne es nur geben, wenn die Russen mehrheitlich "tief enttäuscht" seien und ein "erheblicher Teil der Elite" versage.

Das habe sich auch schon bei der Niederlage Moskaus im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 erwiesen. Zwar sei damals der Mythos von der "Unbesiegbarkeit" Russlands korrigiert worden, aber politische Reformen habe es nicht gegeben: "Obwohl Misserfolge an den Fronten eigentlich ein wichtiger Impuls für revolutionäre Prozesse sind, gelang es den zaristischen Behörden, die Lage unter Kontrolle zu halten."

"Niemand rennt nackt raus in die Kälte"

Der ansonsten durchaus kremlskeptische Politologe Konstantin Kalaschew stimmte seinem Kollegen Inosemsew in diesem Fall ausdrücklich zu: "Das System ist wirklich stabil, insbesondere die Wirtschaftsordnung, die dem Staat ermöglicht, noch jahrelang zu überleben. Das Land hat sich bereits an die Sanktionen angepasst. Unter Marktbedingungen wird es keine leeren Regale wie Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts geben. Für zusätzliche Stabilität sorgt die Loyalität der Eliten. Nach [den Erfahrungen mit dem verstorbenen Söldnerführer) Prigoschin rennt niemand mehr nackt raus in die Kälte." Putin bediene die "paternalistischen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung". Kalaschew macht allerdings eine große Einschränkung und verweist auf "schwarze Schwäne", auf die Putin gefasst sein müsse, also völlig unvorhergesehene Ereignisse: "Probleme können buchstäblich aus dem Nichts kommen. Selbst bei klarem Himmel donnert es manchmal."

"Elite muss antiwestliche Stimmung fördern"

Der russische Philosoph Dmitri Michailitschenko knüpfte inhaltlich an Inosemsews Bemerkungen zu Putins erfolgreicher psychologischer Strategie an und sprach davon, dass die "antiwestliche Stimmung" in Russland seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr so ausgeprägt gewesen sei wie aktuell: "Die meisten Provinzbewohner waren noch nie in Europa und haben auch nicht die Absicht, dies zu tun."

Putins Regime bleibe gar nichts anderes übrig, als sich entschieden nach Osten zu wenden, die Mithilfe der Kreml-Elite sei diesbezüglich allerdings entscheidend: "Derzeit und zumindest in den kommenden Jahren ist das äußerst problematisch. Das bedeutet, dass sich die Führungsschicht nicht nur selbst vom westlichen Einfluss freimachen muss, sondern die antiwestliche Stimmung auch aktiv anstacheln muss. Das ist eines der Elemente zur Stärkung der Position der Herrschenden im Land. Aufgrund der politischen Situation wird die überwältigende Mehrheit der russischen Bürger diese Stimmungslage (zumindest formell) akzeptieren."

Leicht sei das im Alltag jedoch nicht, so seien chinesische TV-Serien bisher alles andere als populär, und auch die demonstrativen Feiern zum chinesischen Neujahrsfest seien wenig enthusiastisch aufgenommen worden.

"Menschen haben keine Angst mehr"

Ganz anders der Eindruck des russischen Exil-Bloggers Anatoli Nesmijan (111.000 Fans). Er will "bemerkenswerte Zeichen der Ermüdung" selbst unter den russischen Ultrapatrioten festgestellt haben. So störten sie sich nicht mal mehr sonderlich an einer weiteren Versenkung eines großen russischen Kriegsschiffs durch die Ukraine. Putin bleibe nur eine Verschärfung des Terrors, um die Bürger bei der Stange zu halten: "Die Mehrheit kümmert sich einfach nicht mehr darum, was vorgeht." Der Kreml habe zwei Möglichkeiten: Entweder die Repression zu verschärfen oder neue Krisen zu provozieren, um das Publikum emotional zu fesseln. "Die Menschen haben keine Angst mehr und die Behörden haben das Verständnis dafür verloren, wie man ihnen im Rahmen der bestehenden Krise Angst machen kann", so Nesmijan.

Für diese These spricht, dass Putin immer neue Unterdrückungsmaßnahmen anordnet. So lässt er jetzt auch das Eigentum von Russen beschlagnahmen, die wegen "Fälschungen" über die Armee verurteilt wurden. Abgesehen davon nehmen die Denunziationen zu, was viele Russen erheblich beunruhigt, wie den Telegram-Kanälen unschwer zu entnehmen ist. Die von der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta Europe" befragte Anwältin Waleria Wetoschkina sagte: "Man kann nicht sagen, dass sie angefangen haben, bestimmte Verbrechen strenger zu bestrafen. Ich beobachte eine allgemein repressivere Tendenz. Normale Bürger (und selbst Anwälte) können nicht mehr vorhersagen, welche Konsequenzen welche Handlungen haben."

"Ein von Gott begnadeter Anführer"

In einer ausführlichen Analyse des US-Nachrichtenportals Bloomberg wird Putin bescheinigt, in einer vergleichsweise vorteilhaften Position zu sein. Aus Sicht seiner Weggefährten habe der russische Präsident inzwischen das Image eines "Houdini", also eines Magiers, der selbst aus den größten Krisen ungeschoren hervorgehe. Seine politische Langlebigkeit sei gleichzeitig eine "Waffe", um Zweifelnde von sich zu überzeugen - obwohl der Krieg "in vielerlei Hinsicht" für ihn "unglücklich" verlaufe: "Umfangreiche internationale Sanktionen konnten die russische Wirtschaft bislang nicht einbremsen."

Im Übrigen verstehe sich Putin als "Rächer" an einer Weltordnung, die er einst selbst gern mitgeprägt hätte. Die äußerst kostspieligen olympischen Spiele in Sotschi und die Besetzung der Krim im Jahr 2014 hätten seine Zustimmungswerte auf über 80 Prozent katapultiert: "Die relativ unaufgeregte internationale Reaktion auf die Annexion der Krim und der Anstieg seiner Popularität im Inland haben Putins Überzeugung bestärkt, dass er nicht nur Glück hatte, sondern ein von Gott begnadeter Anführer ist, sagen Leute, die der Kremlführung nahe stehen." Letztlich bediene der Präsident zuverlässig die Bedürfnisse "mächtiger Bündnisgenossen" nach dem Erhalt von Macht und Geld.

"Eine Art Doppeldenken"

Aktuelle Umfragen aus Russland scheinen ebenfalls auf eine gewisse Stabilität des Meinungsklimas hinzudeuten, auch, wenn die Befragten unter den Bedingungen des autoritären Systems kaum offen ihre Ansichten mitteilen dürften. Wie das Lewada-Institut ermittelte, sind angeblich rund 75 Prozent der Russen mit der "Spezialoperation" einverstanden, wobei es allerdings eine Art "Doppeldenken" gebe, wie es ironisch in einem Exil-Portal heißt. Denn gleichzeitig befürworteten rund 52 Prozent Friedensgespräche, nur vierzig Prozent seien für die Fortsetzung des Krieges unter allen Umständen. Die Sehnsucht nach Frieden sei also deutlich größer, als es oberflächliche Betrachtungen nahelegten. Vor allem die Älteren, die der TV-Propaganda Glauben schenken, erweisen sich seit Kriegsbeginn als besonders "patriotisch".

"Angst um komfortables Leben"

Die russische Soziologin Maria Fil spricht von einem Rückgang des "Angstniveaus" in der russischen Gesellschaft im vergangenen Jahr, was allerdings nicht überinterpretiert werden dürfe, da das Meinungsklima volatil sei. Außerdem sei das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen "äußerst gering". Es herrsche der Eindruck vor, dass die Regierung nicht im Interesse der Bürger handle, sondern nach einer "eigenen Logik", die Außenstehenden verborgen bleibe: "Auf breiter Ebene besteht Konsens darüber, dass vor den Präsidentschaftswahlen [Mitte März] keine unpopulären Entscheidungen getroffen werden, aber auf längere Sicht erwartet man alles mögliche."

So hätten viele Angst vor weiteren Mobilisierungswellen, Wohlstandsverlusten, Internet-Zensur und Sabotage: "Allen diesen Punkten ist eines gemeinsam: die Angst, ein für die Mehrheit der Bevölkerung ohnehin nur schwer aufrechtzuerhaltendes Grundniveau an relativ komfortablem Leben einzubüßen."

"Putin muss auf Quantität statt Qualität setzen"

Was die militärischen Perspektiven von Putins Angriffskrieg betrifft, die für den Bestand des Regimes nicht ganz unwichtig sein dürften, sagte das in London ansässige International Institute for Strategic Studies in seinem neuesten Bericht "The Military Balance" voraus, dass Russland noch zwei bis drei Jahre durchhalten könne, was den Rüstungsnachschub betreffe, dabei allerdings "Qualität zugunsten der Quantität" opfern müsse. Damit ist gemeint, dass Putin betagte Panzer und andere Waffen aus Sowjetzeiten aus den Lagerbeständen holen lassen muss, statt ausreichend neue produzieren zu können. Konkret entnehme die russische Militärführung monatlich rund 90 gepanzerte Fahrzeuge aus dem Altbestand, der immer noch rund 4.000 Geräte umfasse. Die Ausbildung neuer Rekruten werde ebenfalls vernachlässigt, um möglichst schnell personelle Verluste auszugleichen. Umgekehrt sei die Kampfkraft der ukrainischen Armee vom Westen zwar qualitativ verbessert worden, allerdings auf Kosten einer "größeren logistischen Komplexität".

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