Dem Angeklagten hinter Glas wird ein Dokument präsentiert
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Boris Kagarlitzky bei seinem Prozess im Dezember 2023

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"Welche Hölle": Russen empören sich über Putins Justiz

Der marxistische Soziologe Boris Kagarlitzky muss wegen "Rechtfertigung von Terrorismus" für fünf Jahre ins Gefängnis. Das erschüttert sogar die Propagandisten des Kremls: "Dutzende von Ländern werden Russland deutlich weniger unterstützen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das kommt ausgesprochen selten vor, dass der kremltreue Publizist Sergej Markow sich über die eigene Regierung aufregt. Doch jetzt ist nicht nur er äußerst ungehalten über die russische Justiz. Die verurteilte den prominenten linken Soziologen Boris Kagarlitzky (65) wegen "Rechtfertigung des Terrorismus" in einem Berufungsverfahren zu fünf Jahren Haft. Der Wissenschaftler hatte Fotos und Videos des Angriffs auf die Krimbrücke am 7. Oktober 2022 geteilt und kommentiert.

Er war nach der Festnahme am 25. Juli 2023 zunächst gegen Zahlung einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 6.000 Euro aus der Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt worden - damit er Gelegenheit bekam, sein Heimatland diskret zu verlassen, wie mancher Beobachter vermutete. Offenbar konnte oder wollte Kagarlitzky, dessen Bücher teilweise auch auf Deutsch erschienen ("Die Revolte der Mittelklasse", 2013) diesen "Wink" nicht verstehen.

"Das ist ein schwerer Schlag für Russlands Position in der Welt", so der ansonsten stets propagandistische Sergej Markow in seiner entrüsteten Reaktion: "Kagarlitzky ist unter den Freunden Russlands in der Welt sehr berühmt. Er ist einer der wenigen prominenten Marxisten aus Russland weltweit. Und die meisten Marxisten unterstützen Russland mittlerweile in Dutzenden von Ländern. Und dieses Urteil gegen Kagarlitzky wird in Dutzenden von Ländern zu einem starken Rückgang der Unterstützung für Russland führen, speziell in den Ländern des globalen Südens, wie Brasilien, Südafrika, den BRICS+-Staaten und in den EU-Ländern."

"Kampf der Kreml-Lager aus den Fugen"

Der Soziologe lasse sich zwar von ausländischen Institutionen finanzieren, so Markow, sei aber kein Terrorist oder Extremist. Jeder sage mal etwas "Dummes", nach diesem Kriterium könne der Kreml "jeden Intellektuellen einbuchten". Putin müsse sich darauf gefasst machen, von linken Regierungschefs aus Brasilien und Südafrika beim kommenden Gipfeltreffen der BRICs-Staaten im russischen Kasan auf Kagarlitzky angesprochen zu werden: "Das ist ein Schlag für Russland Führungsposition in diesem Kreis."

Mit dieser Kritik steht Markow bei weitem nicht allein da. Die Entscheidung sei "beispiellos", so einer der bekanntesten staatstragenden Blogger, zumal Kagarlitzky aus Lateinamerika, wo Putin um Verständnis werbe, viele Solidaritätsbekundungen bekommen habe. Es gebe nur zwei mögliche Erklärungen für den "Wandel von Gnade zu Wut". Entweder habe sich Kagarlitzky nicht an geheime Abmachungen gehalten, weil er sich zum Beispiel nicht "aktiv an der Aufklärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe beteiligt" habe, oder der Kampf der verschiedenen Lager im Kreml sei "aus den Fugen geraten" und Putins Einfluss auf den Repressionsapparat "völlig ausgehöhlt".

"Geschenk an Feinde des Kremls"

Jedenfalls sehe das nach einer "irrationalen" Entscheidung aus: "Das Signal, das die russische Zivilgesellschaft nun vom Staat erhalten hat, ist äußerst negativ. Am Vorabend der Präsidentschaftswahlen diskreditiert es völlig die Bemühungen derjenigen, die Hoffnungen auf ein Tauwetter, eine Rückkehr zur Gerechtigkeit im Land und eine Abschwächung der repressiven Staatspolitik gegenüber Intellektuellen, der gebildeten Klasse usw. wecken wollten. Es ist ein Geschenk an alle Feinde des Kremls. Eine unangenehme Überraschung in jeder Hinsicht."

"Verkappte Sadisten mit einflussreichen Vätern"

Politologe Konstantin Kalaschew zeigte sich ähnlich verwundert: "Bis vor Kurzem zählten die Behörden der Russischen Föderation sowohl auf die Sympathie ausländischer Paläokonservativer als auch auf die Unterstützung ausländischer Linker. Nach dem Urteil gegen den weltweit angesehenen linken Denker Boris Kagarlitzky zu schließen, beschlossen sie, die Unterstützung der Linken künftig zu vernachlässigen."

Die Strafverschärfung sei wohl ein "spontaner Akt", vermutete der "konservative" Beobachter Boris Meschujew: "Aber ich könnte mich auch irren." Starkolumnistin Ekaterina Winokurowa räumte ein, ihr fehlten die Worte. Sie sah "verkappte Sadisten mit einflussreichen Vätern" am Werk. Offenbar habe der Kreml von Kagarlitzky erwartet, seine politischen Aktivitäten vollständig aufzugeben, was der Mann nach seiner vorübergehenden Freilassung falsch eingeschätzt habe. Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte sich auf Journalisten-Nachfrage zu dem Fall nicht äußern und verriet auch nicht, ob Putin von dem umstrittenen Urteil offiziell in Kenntnis gesetzt wurde.

"Leviathan lässt Opfer nicht ungeschoren"

Bloggerin Alina Witukovskaja fasste ihre Sicht der Dinge in dem bezeichnenden Satz zusammen: "Sobald das System Sie in den Klauen hat, lässt es Sie nicht mehr los." Sie wurde von Kollegen bestätigt: "Alle waren überrascht über die Milde des ersten Urteils, auch wir. Jetzt ist klar geworden, dass sie einfach nur den Hype im Volk aussitzen wollten. Sobald es vorbei war, beruhigten sich alle ein wenig und der Soziologe wurde wie ursprünglich geplant ins Gefängnis geschickt. Der Leviathan lässt seine Opfer nicht ungeschoren."

Andere erinnerte Kagarlitzky an den einstigen "Liebling" der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Nikolai Bucharin (1888 - 1938), den Stalin in einem Schauprozess wegen "Spionage" zum Tode verurteilen ließ. Auch Bucharin, der zu Lebzeiten viele Intellektuelle vor Verfolgung und Festnahme bewahrte, darunter den berühmten Schriftsteller Michail Bulgakow, habe die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt.

Blogger und Politikberater Mark Nepscha schrieb: "Warum ist ein solches Urteil bedauerlich? Ich bin nicht in den Kern der Angelegenheit eingetaucht, aber der Unterschied zwischen einer Geldstrafe und fünf Jahren Haft ist zu groß. Diese Person hat bereits alle negativen Einstufungen (ausländischer Agent, Extremist, Terrorist) zuerkannt bekommen, und so gebrandmarkt gibt es kaum noch ein normales Leben. Der Angeklagte selbst nimmt das Urteil wohl als Fallstudie wahr. Ein echter Fachmann kann eben überall einen Forschungsstoff finden."

"Monströses Gefühl des Untergangs"

Die Journalistin und zeitweilige Pressefrau des russischen Kulturministers Medinsky, Lisa Laserson, zeigte sich weniger ironisch: "Welche Hölle! Das Berufungsgericht hob Kagarlitzkys 'zu mildes' Urteil auf und verurteilte ihn zu fünf Jahren Gefängnis wegen Rechtfertigung des Terrorismus! Das ursprüngliche milde Urteil war ein wahres Wunder, und seine Aufhebung ist ein Beweis für unsere allgemeine Hilflosigkeit. Weder die Resonanz, noch die Absurdität der Anschuldigung, noch die Unterstützung westlicher Politiker – nichts kann einem Menschen in Russland heutzutage helfen. Was für ein monströses Gefühl des Untergangs."

Der russische Oppositionspolitiker Sergej Mitrokin schimpfte: "Das brutale Urteil gegen Boris Kagarlitsky ist ein weiterer Beweis für den Mangel an grundlegender Gerechtigkeit in unserem Land. Sowohl das Gericht als auch die Gesetze, die es anwendet, sind völlig losgelöst von jedweder Moral und gesundem Menschenverstand. Wir haben Gerichte und Verfahren, aber kein Gesetz." Andere zitierten ein Gedicht des russischen Dichters Ilja Selwinski (1899 - 1968): "Wie gruselig geht´s in unseren Reihen zu, hier ist nur der Duckmäuser unbehelligt."

Kagarlitzky sei "kein Bandit, sondern Wissenschaftler", hieß es im Leserforum der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" empört. "Normale Menschen kommen ins Gefängnis, Mörder und Vergewaltiger werden freigelassen", schrieb jemand unter Anspielung auf die vielen Ex-Häftlinge, die für die Front mobilisiert wurden. Schon bald würden die "ausländischen Agenten" in Russland als Helden gefeiert, sagte ein weiterer Kommentator voraus: "Es ist nur eine Frage der Zeit."

"Hier geht es nicht um böse Menschen"

In seinem letzten Post auf Telegram im vergangenen Juli, kurz vor seiner ersten Festnahme, hatte Boris Kagarlitzky übrigens geschrieben: "Die Frage, ob Russland in diesem Konflikt mit anderen Personen an der Spitze von Verwaltung und Armee einen größeren Erfolg hätte erzielen können, ist nicht nur abstrakt, sondern auch absurd, denn in diesem Fall hätte es diesen Konflikt (zumindest in seiner jetzigen Form) gar nicht gegeben. Hier geht es auch nicht um böse Menschen, sondern darum, welchen gesellschaftlichen Gruppen und welchen Interessen die Behörden verpflichtet sind. Der oligarchische Staat ist zwar in der Lage, sich hinter irgendwelchen [patriotischen] Parolen zu verstecken, kann aber nur im Interesse der Oligarchie handeln."

In Russland sei ungeachtet der Unterdrückung viel eher mit plötzlichen politischen Umschwüngen zu rechnen als im Westen, argumentierte der Soziologe: "In der unpolitischen russischen Gesellschaft kann keine Idee, kein Programm und keine Initiative massenhaft aktiv unterstützt werden. Die überwiegende Mehrheit der heutigen Bevölkerung ist jedweder Idee fremd, egal ob links, rechts, protektionistisch, oppositionell, revolutionär oder konservativ. Daraus folgt jedoch nicht, dass das immer so bleiben wird. Der Widerspruch besteht darin, dass eine politisch träge Gesellschaft das Potenzial hat, sich schnell zu politisieren und stark in die eine oder andere Richtung zu bewegen, was in Ländern, in denen die Bevölkerung in stabilen politischen Blöcken organisiert ist, unmöglich ist."

"Wir müssen nur noch ein bisschen weiterleben"

In seinem Schlusswort vor dem Berufungsgericht hatte Kagarlitzky gesagt. "Ich lasse den Mut nicht sinken. Ich bin wie immer bester Laune. Ich sammle weiterhin Daten und Materialien für neue Bücher, einschließlich Beschreibungen des Gefängnislebens (jetzt aus den Moskauer Anstalten). Generell: auf bald. Ich bin mir sicher, dass alles sehr gut ausgehen wird. Wir sehen uns wieder, wenn ich wieder in Freiheit bin. Im Allgemeinen wird alles gut. Wir müssen nur noch ein bisschen weiterleben und diese dunkle Zeit für unser Land überstehen."

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