Standbild vor der russischen Flagge
Bildrechte: Jegor Alejew/Picture Alliance

Statue des russischen Politikers Pjotr Stolypin in Saratow

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Alles entsetzlich": Wie "seltsam" ist Putins Geschichtsbild?

Immer wieder irritiert der russische Präsident seine Zuhörer mit historischen Rückblicken. Putin wolle am Jahr 1654 anknüpfen, vermutet ein prominenter Propagandist - dürfe es aber nicht wagen, das "direkt" zu sagen: "Aber in Wirklichkeit ist es so."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der "Krieg der Gebeine" zwischen Russland und der Ukraine ist auf beiden Seiten der Front in vollem Gang: Der Generaldirektor des traditionsreichen Höhlenklosters von Kiew, Maxim Ostapenko, machte kürzlich den Vorschlag, die Leiche des dort bestatteten früheren russischen Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin (1862 - 1911) auszugraben und gegen ukrainische Gefangene einzutauschen. Begründung: Es gelte "tote Helden" Russlands gegen "lebende Helden" der Ukraine aufzuwiegen und den Prozess der "wahren Unabhängigkeit der Ukraine" fortzusetzen. Stolypin (1862 - 1911) gilt als einer der prominentesten russischen Reformpolitiker des frühen 20. Jahrhunderts und machte sich zu Lebzeiten bei Liberalen wie Konservativen unbeliebt. Revolten unterdrückte er mit Standgerichten und Massenerschießungen. Angeblich wurden auf ihn 11 Attentate verübt, er starb bei einem Besuch im Opernhaus von Kiew durch zwei Kugeln aus dem Revolver eines Revolutionärs.

"Bei denen steht alles zum Verkauf"

Russische Propagandisten zeigten sich empört darüber, dass die Ukraine die sterblichen Überreste Stolypins offenbar "meistbietend versteigern" wolle, wie es der nationalistische Parlamentarier Leonid Slutsky ausdrückte. Das sei gotteslästerlich und zeuge von einer "völligen moralischen Verkümmerung" in Kiew. "Es ist unglaublich, bei denen steht alles zum Verkauf", schimpfte TV-Reporter und Kriegsblogger Alexander Sladkow, der allerdings hinzufügte: "Die Umbettung von Stolypin wird sicherlich zu einer gesamtrussischen Solidaritätsaktion." Immerhin sei auch schon die Leiche des berühmten sowjetischen Scharfschützen Wassili Saizew (1915 - 1991) aus der Ukraine nach Wolgograd umgebettet worden.

In der Ukraine stieß der Vorschlag des skurrilen "Gefangenenaustauschs" auf ein geteiltes Echo. Vermutlich wollten die Russen die Leiche von Stolypin gar nicht haben, mutmaßte ein Leser, denn der Mann sei ja "Reformer" gewesen und unter Putin herrsche "Stagnation". Andere erinnerten an die christliche Reliquienverehrung, die dazu beitrug, dass im Mittelalter überraschend viele Knochen von Heiligen in Umlauf wahren. Womöglich ließen sich auch die von Stolypin für einen "guten Zweck" vervielfältigen. Der Ausdruck, man solle Putin "keinen kleinen Finger reichen" bekomme jetzt völlig neue Bedeutung. Für die Überreste des russischen Kriegshelden Nikolai Kusnezow (1911 - 1944), der auf einem "Ruhmeshügel" in Lemberg bestattet wurde, ließen sich womöglich hundert Gefangene auslösen, schlug jemand vor: "Es sind sicher bereits Geheimdienstoperationen zur Entführung seiner Leiche im Gange."

"Wir stehen dann als Wilde da"

Andere bezweifelten, ob die Ukraine mit derartigen "Geschäften" ihr Ansehen in der "zivilisierten Welt" aufbessern könne: "Wir stehen dann als Wilde da, die mit Knochen und Leichen Handel treiben." Ähnlich die Befürchtung eines weiteren Kommentators: "Was uns aufgrund unseres psychischen Traumas akzeptabel erscheinen mag, wird für die meisten westlichen Länder absolut inakzeptabel sein." Scherzbolde schlugen vor, Stolypins Leiche gegen "Putins Mumie" einzutauschen, eine Anspielung auf die Verschwörungstheorie, wonach der russische Präsident längst gestorben sei und dessen Überreste in einem Kühlhaus aufbewahrt würden. Jemand ließ es nicht nehmen, auf den mutmaßlichen Ablauf der Friedhofsnutzung von Stolypin zu verweisen. Es sei in Europa üblich, Gräber danach aufzulassen und die Knochen in ein Kolumbarium zu überführen.

Auch die Überreste des bekannten Fürsten Grigori Potjomkin (1739 - 1791), der es als Vertrauter und angeblicher Liebhaber von Zarin Katharina der Großen zur zweifelhaften Berühmtheit brachte, wechselten übrigens ihren Aufenthaltsort. Die Russen brachten sie bei ihrem überstürzten Abzug aus dem ukrainischen Cherson samt einigen Denkmälern auf das "linke Ufer" des Dnjepr, also in die von Moskau besetzten Gebiete. Das Schicksal prominenter Gebeine scheint in diesem Krieg also von erstaunlicher Bedeutung zu sein, was angesichts von Putins Geschichtsbesessenheit nicht weiter verwundert.

"Unser Volk wird das verstehen"

Die Russen seien nun mal eine "historische Nation", so der kremlnahe Propagandist Sergej Markow: "Anders als die Amerikaner. Amerikaner leben nicht in der Geschichte, sondern nur in der Gegenwart und der Zukunft. Die Russen leben in der Vergangenheit und der Zukunft." Putin stehe in der "Nachfolge" des rebellischen Kosakenanführers Bogdan Chmelnyzkyj (ca. 1595 - 1657), so Markow völlig ironiefrei. Der so legendäre wie umstrittene Held, der für judenfeindliche Exzesse mit rund 20.000 Todesopfern verantwortlich war, hatte 1654 gegen die damalige polnisch-litauische Herrschaft aufbegehrt und sich und seine Ländereien im Gebiet der heutigen Ukraine unter den "militärischen Schutz" des Zaren gestellt.

"Putin kann nicht einfach sagen, dass er die Arbeit von Bogdan Chmelnyzkyj im Jahr 1654 fortsetzt, weil man ihn sonst für einen seltsamen Menschen halten würde", so Markow: "Daher sagt er nicht direkt, dass seine eigentliche Mission darin besteht, keinen Verrat zu begehen an Bogdan Chmelnyzki und seiner Entscheidung [zugunsten Moskaus] im Jahr 1654. Aber in Wirklichkeit ist es so. Sowohl in Russland, als auch in der Ukraine, ist dies Putins Mission und seine Pflicht – Bogdan Chmelnyzkyj nicht zu hintergehen, unser Volk wird das verstehen."

"Vielleicht langweilig, aber es erklärt viel"

Putin hatte im Gespräch mit dem US-Journalisten Tucker Carlson auf hilfesuchende Briefe von Chmelnyzkyj an den russischen Zaren verwiesen, um die aktuellen Ansprüche Moskaus auf die Ukraine zu legitimieren: "Er schrieb an Warschau und forderte die Achtung seiner Rechte, und nachdem ihm dies verweigert wurde, begann er, Briefe an Moskau zu schreiben, in denen er darum bat, sich dem starken Arm des Moskauer Zaren unterstellen zu dürfen. Hier [im Ordner] befinden sich Kopien dieser Dokumente. Ich werde sie Ihnen als schöne Erinnerung überlassen." Seit dem "ewigen Frieden" zwischen Moskau und Warschau im 17. Jahrhundert sei die Ukraine "Teil des Moskauer Zarenreichs". Die Schwarzmeerregion habe "nie einen historischen Bezug zur Ukraine" gehabt. Dreh- und Angelpunkt sei das Jahr 1654. Putin wörtlich: "Es ist vielleicht langweilig, aber es erklärt viel."

Russische Blogger fühlten sich mit Putins Ausführungen über Chmelnyzkyj nicht besonders wohl. Offenbar sei der Präsident das "Opfer" seines Auslandsgeheimdienstchefs Sergej Naryschkin geworden, der gleichzeitig als umtriebiger Präsident der Historischen Gesellschaft fungiert: "Er hat Putin reingelegt." Der Kreml muss auch mit jeder Menge Satiren zurecht kommen: Der mongolische Politiker und Ex-Ministerpräsident Tsachiagiin Elbegdordsch postete eine Landkarte, auf der Russland in den Grenzen des 13. Jahrhunderts abgebildet war. Damals beherrschten mongolische Khane große Teile Asiens, das Moskauer Gebiet war vergleichsweise winzig: "Aber keine Sorge, wir sind eine friedliche und freiheitsliebende Nation."

"Sie pokerten zu hoch"

Großes Befremden hatte Putin obendrein mit seiner abstrusen Behauptung ausgelöst, Hitler habe 1939 zunächst eine friedliche Verständigung mit Polen gesucht ("Wir haben alle Dokumente in den Archiven") und "keine andere Wahl" gehabt, als anzugreifen: "Sie pokerten zu hoch und zwangen Hitler, den Zweiten Weltkrieg zu beginnen." Putin wiederholte damit die berüchtigte NS-Propagandalüge. Tatsächlich hatten die Nazis SS-Soldaten in polnischen Uniformen über die Grenze geschickt, um "Provokationen" auszulösen und einen vermeintlichen Kriegsgrund zu schaffen ("Unternehmen Tannenberg"). Hitler hatte damals in einer Geheimrede gesagt: "Die Auslösung des Konflikts wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht."

Aus Putins Sicht paktierte Polen dagegen zeitweise mit Hitler bei der Aufteilung der damaligen Tschechoslowakei und wurde "Opfer seiner eigenen Politik". Noch absurder das Urteil des russischen Präsidenten über den Hitler-Stalin-Pakt zur Teilung Polens: "Russland kehrte damit unter dem Namen Sowjetunion zu seinen historischen Territorien zurück."

"Alles daran ist so entsetzlich"

Die Historikerin Tamara Eidelman ließ es sich nicht nehmen, Putins Geschichtsbild für die im Ausland erscheinende "Moscow Times" zu analysieren: "Das alles sieht aus wie eine Art Theaterstück von Daniil Charms (1905 - 1942), in dem eine Figur völlig absurde Dinge sagt." Sie habe sich ursprünglich fest vorgenommen, Putins Ausführungen "leicht ironisch" abzuhandeln, so Eidelman, insbesondere nach den Passagen über Hitler und Polen jedoch Tränen in den Augen gehabt über den "Gipfel des Zynismus": "Schämen Sie sich nicht? Alles daran ist so entsetzlich, dass es einen schlicht sprachlos macht." Putins Masche sei es, eine historische Tatsache zu zitieren und dabei drei weitere wegzulassen.

Der russische Präsident sei mit einem zweitklassigen Schüler vergleichbar, der im Unterschied zu einem drittklassigen nicht ganz begriffsstutzig und uninteressiert sei: "So ein Schüler hat irgendwo was aufgeschnappt, er hat vielleicht sogar versucht, zu kapieren, was er gehört hat, aber er hat alles durcheinander gebracht, er versteht überhaupt nicht, wovon er redet, gleichzeitig hört er nicht auf, einige fragmentarische Sätze aus der gestrigen Geschichtsstunde nachzuplappern."

"Chmelnyzkyj verrechnete sich"

Was das eingangs erwähnte 17. Jahrhundert betrifft, lässt die Historikerin kein gutes Haar an Putins vermeintlicher Archiv-Forschung: "Chmelnyzkyj hat wirklich Briefe nach Warschau (oder Krakau?) und Moskau geschrieben. Nur schrieb er beispielsweise auch nach Istanbul. Zeitweise erwog er eine völlig realistische Option – ein Vasall des osmanischen Sultans zu werden. Bedeutete das, dass er sich selbst als Türken betrachtete? Nein, natürlich nicht. Er überlegte einfach: Ein Bündnis mit welchem ​​Staat würde ihm und seinem Volk maximale Sicherheit und Rechte bieten – eines mit mit dem polnischen? Mit den Ottomanen? Mit Moskau?" Letztlich habe er sich für Moskau entschieden und dabei "verrechnet", denn anders als erwartet, habe der Zar nicht daran gedacht, die Autonomie der Kosaken zu bewahren.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!