Hochhäuser unter Regenhimmel
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"Gefährlicher" Regenbogen über Moskau

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"Schauen Sie genauer hin": Warum Russland Regenbogenfarben zählt

Bunte Ohrringe können in Putins Russland ebenso gefährlich sein wie Schirme, Socken oder Emojis: Seit der oberste Gerichtshof das Regenbogen-Symbol als "extremistisch" einstufte, kommt es juristisch darauf an, ob es sechs oder sieben Farben enthält.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Kremlsprecher Dmitri Peskow sind nach eigenen Worten keine Gesetze bekannt, die Regenbögen in Russland verbieten. Gleichwohl musste kürzlich eine 24-jährige Frau aus Nischni Nowgorod fünf Tage in Untersuchungshaft, weil sie bunte Ohrringe getragen hatte, die als "extremistisches" Symbol missverstanden wurden. Sie hatte in einem Café gesessen, wo sie offenbar jemand filmte. Nachdem die Videos im Netz landeten, meldeten sich die Strafverfolgungsbehörden. Prompt kam es zu einer grotesken politischen Auseinandersetzung. Der einflussreiche Medienpolitiker und Publizist Alexander Khinshtein hatte den Vorfall in einer ersten Reaktion am 1. Februar als "sehr seltsam" bezeichnet, weil die Ohrringe angeblich "ganz traditionell sieben Farben" gehabt hätten: "Was das mit LGBT-Menschen zu tun hat, ist mir nicht klar."

"Das ändert die Sache radikal"

Einen Tag später korrigierte sich der meinungsfreudige Parlamentarier und wollte erfahren haben, dass die aufsehenerregenden Ohrringe nur sechsfarbig gewesen seien und ihre Trägerin obendrein auch noch mit einem "geschlechtsneutralen Wesen mit ukrainischen Abzeichen" im Café gesessen habe. Die Anwältin der Beschuldigten habe dem Gericht demnach wohl "falsches "Beweismaterial", nämlich unverfängliche siebenfarbige Ohrringe, vorgelegt: "Das ändert die ganze Sache radikal! Ich bedauere, dass ich, wie viele andere auch, auf diese Fälschung hereingefallen bin: Wer damit begonnen hat und warum, ist Gegenstand einer gesonderten Untersuchung. Unter diesen Umständen halte ich die gerichtliche Entscheidung jedoch für rechtmäßig und sehe keinen Grund für eine Aufhebung."

"Menschen hatten zu Recht Angst"

Die innerrussische Debatte über den Regenbogen als Sinnbild der internationalen LGBTQ-Bewegung nahm dadurch abermals Fahrt auf. Zwar hat die klassische Regenbogenflagge, wie sie bei Gay Pride-Paraden zu sehen ist, tatsächlich sechs Farben, es gibt jedoch längst Varianten mit bis zu elf Schattierungen und jeweils eigene Flaggen für Lesben, Bi-, Trans-, Pan- und Intersexuelle. Warum der "traditionelle" Regenbogen ausgerechnet sieben Farben haben soll, wie es Khinshstein behauptet, wurde von ihm nicht näher erläutert. Die russische Menschenrechtsaktivistin Eva Merkaschewa fürchtet jedenfalls, dass demnächst bunte Höschen und Haarnadeln für ihre Trägerinnen fatal werden könnten: "Die Entscheidung, die das Oberste Gericht kürzlich getroffen hat, scheint zu bestätigen, dass die Menschen zu Recht Angst hatten."

"Bin kein Experte"

Die Russen würden in einen Zustand der "Benommenheit" versetzt, fürchtete Merkaschewa, die in ihrem eigenen Namen Berufung beim Obersten Gerichtshof einlegte, um "Hitzköpfe zu bremsen", wie sie es ausdrückte: "Jetzt werden die Menschen anfangen, all die Dinge wegzuwerfen, die zumindest irgendwie extremistischen Symbole ähneln. Das wird zu nichts Gutem führen." So sei als Nächstes zu befürchten, dass eine "feministische Sprache" geahndet werde, was ein Richter am höchsten russischen Gerichtshof bereits in einem Urteil auf 19 Seiten ausgeführt habe. Allerdings sei der Text bisher nicht veröffentlicht worden.

Der Vater der Ohrring-Trägerin argumentierte laut einem russischen Radiosender, die Töne Rotbraun und Blau kämen so auf der LGBTQ-Flagge gar nicht vor, und ein herbeigerufener Mitarbeiter der zuständigen Richterin habe nach der Begutachtung der Ohrringe über die Anzahl der Farben gesagt: "Es kommt ganz darauf an, wie man zählt. Ich bin kein Experte."

"Anstifter hat saubere Hände"

Wenig verwunderlich, dass die "Ohrring"-Affäre jede Menge Spötter auf den Plan rief. Jemand wollte wissen, wo er seine Nachbarin wegen ihres "Streifen-Shirts" denunzieren könne, um sich was dazu zu verdienen. Vermutlich würden bald die entsprechenden "Preislisten" veröffentlicht: "So eine Absurdität haben wir schon häufiger erlebt, wir haben angefangen, uns auf alles und jeden zu stürzen wie ein Stier auf ein rotes Tuch." Der Kreml spiele offenbar "bad cop, good cop": "Die Täter werden weiterhin die Bevölkerung terrorisieren, und der Kreml wird so tun, als hätte er keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Die klassische kriminelle Aufgabenverteilung: Der Täter hat ein reines Gewissen, der Anstifter hat saubere Hände."

Im Spielzeugladen würden jetzt wohl alle kaufwilligen Eltern "Farben zählen", mutmaßte ein Leser: "Schauen Sie genauer hin." Physikalisch Interessierte ließen es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass das Prisma von Regenbögen gar keine klar voneinander abgrenzbaren Farben habe. Es gehe um ein optisches, nicht um ein politisches Phänomen. Religiös Gebildete gaben zu bedenken: "Der Regenbogen gilt im Judentum als Zeichen des Bundes, den der Allmächtige nach der Sintflut mit allen Lebewesen auf der Erde schloss, wobei er versprach, sie nicht länger zu zerstören, egal wie sehr sie sündigten. Das Erscheinen des Regenbogens zeigt an, dass eigentlich jede Generation die gleiche Strafe verdient wie die Generation der Sintflut und nur aufgrund dieses Bundes weiter am Leben bleibt."

"Es bleibt nur noch das 'Schwarze Quadrat'"

Wer einen Regenbogen sehe, solle die Flugabwehr informieren, forderte ein Kommentator ironisch: "Verbieten Sie, dass die Sonne beim Auf- und Untergehen rot wird, verbieten Sie, dass das Meer blau, dass das Gras grün, dass der Löwenzahn gelb wird!!! Überprüfen und veröffentlichen Sie eine Auflistung aller Artikel, die in den Farben des Regenbogenspektrums nicht konsumiert werden dürfen!" Ironisch hieß es unter Anspielung auf die "verhängnisvolle" Zahl der Farben auf dem LGBTQ-Regenbogen, die Zahl 6 müssen überhaupt total verboten werden - schließlich sei sie des Teufels.

Den heutigen Jugendlichen bleibe in Russland wohl nur noch das berühmte "Schwarze Quadrat" des Malers und "Futuristen" Kasimir Malewitsch (1879 -1935), der damit 1913 das Ende der gegenständlichen Kunst heraufbeschwören wollte: "Hell ist gar nichts mehr." Jeder, der spazieren gehe, sei gut beraten, die Farben an seiner Bekleidung peinlich genau nachzuzählen: "Die Taiga hat ihre eigenen Gesetze, der Bär gibt den Staatsanwalt."

In Saratow musste eine Künstlerin 1.000 Rubel Strafe bezahlen (umgerechnet 10 Euro), weil sie vor "einigen Jahren" ein Foto mit einem Regenbogen gepostet hatte. Russische "Extremismusbekämpfer" waren in die Ermittlungen eingeschaltet. Für das zuständige Gericht spielte es keine Rolle, dass die Beschuldigte ihren Post veröffentlicht hatte, lange bevor sechsfarbige Regenbögen unter Strafe gestellt wurden.

"Niedergang der Rechtsstaatlichkeit"

Maxim Olenischew, der Anwalt der Künstlerin, sagte in einem Interview, die Polizei habe wohl "einen Fehler gemacht". Er selbst habe erst während des Prozesses erfahren, dass der Regenbogen offenbar seit dem 30. November 2023 als extremistisch gelte, doch auf den Websites der Justizbehörden sei davon damals keine Rede gewesen: "Das ist absurd. Es stellt sich heraus, dass der Oberste Gerichtshof sich weigerte, der Öffentlichkeit Informationen über die von ihm erlassenen Verbote und über die Symbole zur Verfügung zu stellen, welche die Strafverfolgungsbehörden als unzulässig bewerten." Olenischow sprach von einem "Niedergang der Rechtsstaatlichkeit". Offenbar wollten die Behörden "Angst verbreiten". Er empfahl, Regenbögen in jeder Erscheinungsform zu meiden und sämtliche Konten in den sozialen Netzwerken nur noch privat zu nutzen.

"Wenn also jemand sein Coming Out hat und über seine Gefühle und Erfahrungen spricht, dann ist das kein Extremismus", so der Jurist: "Wenn jedoch jemand dazu aufruft, die Situation von LGBT-Menschen in Russland zu verbessern, können die Behörden einen solchen Aufruf als extremistisch betrachten."

"Franz Kafka hat darüber geschrieben"

Blogger Maxim Paschkow stellte in seinen Telegram-Kanal kurzerhand eine zwölfminütige russischsprachige Lesung aus Franz Kafkas absurd-düsterer Erzählung "Der Prozess": "Richter, die alles verstehen und sogar mitfühlend sind, aber plötzlich beschwert sich halt jemand, plötzlich geraten sie unter Druck. Und das Ergebnis von allem ist der Konvoi Richtung [Straflager] Wologda. Das Urteil muss vollstreckt werden. Es scheint, dass Franz Kafka in seinem Buch genau darüber geschrieben hat: Die Absurdität der vorgeworfenen Taten ist jedem klar, aber am Ende wird die Person trotzdem hingerichtet."

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