Der Graffiti-Künstler Loomit in einer Münchner Unterführung.
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Der Graffiti-Künstler Loomit bei der Arbeit in einer Münchner Unterführung.

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Wie München zur Wiege des Graffiti in Deutschland wurde

München, die deutsche Hip-Hop-Hauptstadt? Zumindest für den Graffiti-Bereich stimmt das. Hier begann die deutsche und wohl auch die europäische Graffiti-Ära. In den Achtzigern konnte München sogar mit dem ersten voll bemalten S-Bahnzug aufwarten.

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Es waren die frühen 1980er Jahre, als ein frischer Wind über den Atlantik wehte und einen Trend aus New York ins Schwäbische trug, genauer: nach Buchloe im Ostallgäu.

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Ein Betonturm als erste Leinwand

Dort ist Matthias Köhler aufgewachsen und machte auch seine ersten künstlerischen Gehversuche: An einem Wasserturm, einem Betonkoloss direkt am Stadteingang. "Den hab ich nachts bearbeitet", erklärt er.

Köhler, seit Jahrzehnten unter dem Pseudonym "Loomit" bekannt, ist wohl der Pionier der deutschen Graffiti-Szene. Ein Mann mit bunt bekleckster Künstlerhose und ergrautem Pferdeschwanz, der gerne von seinen ersten Malversuchen erzählt. Zwei Tage nach seinem Graffiti-Debüt habe schon die Zeitung berichtet. Es sei diskutiert worden, ob man nicht den ganzen Turm etwas bunter gestalten sollte. "Und dann habe ich gemerkt: Da geht was mit Graffiti, da kriegt man Aufmerksamkeit."

Sprayen bei 15 Grad Minus

Loomit zog dann mit seiner Mutter nach München um und sah 1983 den nicht nur wegen seiner Musik stilprägenden Graffiti-Film "Wildstyle". In diesem Moment sei es um ihn geschehen gewesen, erzählt er, "Dann ging es nur noch darum: Ich will das auch - raus und malen, malen, malen."

Zum Beispiel an der idyllischen S-Bahn-Endstation Geltendorf. Dort sorgte Loomit in einer Nacht im Jahr 1985 zusammen mit sechs anderen Sprayern für eine europäische Premiere. "Es war zwar bitterkalt, aber das haben wir nicht bemerkt, weil wir so im Rausch waren, das Ding anzumalen. Schmerz, Hunger und Durst haben wir nicht gespürt. Wir waren nur auf Adrenalin, nur am Malen. Und hatten damals keine Ahnung, ob das irgendjemand mitbekommt."

Der erste "Whole Train" fuhr in München

Die Presse und auch die Bahnpolizei bekamen es mit. Nach und nach dann auch die aufkeimende europäische Graffiti-Szene: ein von vorn bis hinten bemalter Zug, ein "Whole Train", wie es im Szene-Sprech heißt. Eine "absolute Sensation" sei das damals gewesen, meint auch Martin Artz. Der Münchner ist Graffiti-Kenner und Autor des Stadtführers "Street-Art München". "Selbst in den USA gab es damals selten 'Whole Trains'", erklärt er. "Das war noch immer was Besonderes." Dass ausgerechnet in München der erste europäische "Whole Train" fuhr, sei der "absolute Wahnsinn" gewesen.

Auf die erste vollgesprühte S-Bahn folgte bald die erste deutsche Sonderkommission Graffiti bei der Bahnpolizei. Der "Whole Train" blieb für Loomit nicht folgenlos: Er musste Sozialstunden ableisten. "Da es nicht meine erste Gerichtsverhandlung und ich Wiederholungstäter war, hatte ich über 100 Arbeitsstunden abzuleisten", erinnert er sich. Seine Aufgabe entbehrte nicht der Ironie. Loomit sollte ein Jugendcafé renovieren. "Eigentlich sollte es weiß werden, was es zum Schluss dann natürlich nicht war."

Mit München messen - der Anspruch der Graffiti-Pioniere

Mit zunehmender Bekanntheit sprühte Loomit schon bald auch die Wände von Privatleuten voll, 1993 sogar das Badezimmer von Oberbürgermeister Christian Ude. Er verdiente damit nicht wenig Geld. Bis heute arbeitet Loomit als anerkannter Street-Art-Künstler. Allerdings war er nicht der einzige Pionier. Ein Kollege namens "Ray" etwa seilte sich 1985 spektakulär von der Großhesseloher Eisenbahnbrücke ab, um knapp 30 Meter über der Isar eine Comicfigur auf den Pfeiler zu sprühen. Andere, sehr bürgerliche Graffiti-Fans sorgten dafür, dass die Street-Art relativ schnell auch gefördert wurde - unter ihnen Peter Kreuzer, ein Ethnologie-Professor. Er legte schon früh eine Fotosammlung für das Stadtarchiv an und brachte die Szene überhaupt erst zusammen.

Loomit hat noch eine These, warum sich hier alles früh entwickelte: Adel verpflichtet. München sei einfach eine sehr kunstaffine Stadt. "Wenn du in einer Stadt mit so vielen Pinakotheken wohnst - ein Stadtbild hast, das auf Ästhetik so viel Wert legt, das prägt auch als Maler. Wir hatten also einen sehr hohen Anspruch." Man habe sich schließlich messen müssen mit der Schönheit der Stadt.

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