Matthias Jügler, Autor des Romans "Maifliegenzeit"
Bildrechte: Melina Mörsdorf/ Penguin Books

Der Autor Matthias Jügler

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Kinderraub in der DDR: Der Roman "Maifliegenzeit"

Nicht das erste Mal beschäftigt sich Matthias Jügler mit der DDR-Diktatur. Der Leipziger Autor hat bereits über die Opfer der Stasi geschrieben. Sein neuer Roman handelt von vorgetäuschtem Kindstod – ein kaum bekanntes Kapitel der DDR-Geschichte.

Über dieses Thema berichtet: Kulturleben am .

Allzu gerne geht er an den Fluss: Hans, die Hauptfigur im neuen Roman von Matthias Jügler. Hans ist Mitte 60 und gerade in Rente gegangen, er lebt mit seiner Partnerin Anne zusammen. Und er angelt, seit Kindertagen schon. Die Unstrut, im südlichen Sachsen-Anhalt, umgeben von Weinbergen, ist sein Revier, mit Karpfen, Barben und Alanden. Matthias Jügler gibt dem Angeln in seiner Geschichte viel Raum. Doch das ist nur die Oberfläche: Hans hat ein großes Trauma. Was er als Junge erlebte – mit dem Vater am Fluss zu sitzen, konnte er nie weitergeben. Sein Sohn Daniel, so heißt es, starb unmittelbar nach der Geburt.

Vorgetäuschter Säuglingstod: Bis zu 2.000 Verdachtsfälle

Die Natur sei für Hans eine Art Trost, erklärt Matthias Jügler im Interview, selbst ein leidenschaftlicher Angler. "Ich glaube, wenn mir so etwas passieren würde wie dem Hans – er hat ja auch irgendwann das Gefühl, da stimmt irgendetwas nicht – scheint mir das gar nicht abwegig zu sein, seinen Trost am Fluss zu suchen. Wenn man über den Fluss spricht, dann könnten wir gleich ein ganzes Philosophie-Seminar darüber geben."

Der Roman "Maifliegenzeit" greift ein noch unbekanntes Thema der DDR-Geschichte auf. Es geht um vorgetäuschten Säuglingstod. Müttern und Vätern wurde unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes erklärt, ihr Baby sei gestorben. So wie Daniel, der Sohn von Hans, geboren Anfang Mai 1978. Sein Herz sei zu schwach gewesen, sagt die Ärztin zur Mutter, zu Hans‘ damaliger Frau Katrin. Das aber war eine Lüge: Die Neugeborenen wurden zur Adoption an andere Eltern gegeben. Matthias Jügler erfuhr von diesem Geschehen durch die "Interessengemeinschaft gestohlene Kinder in der DDR", einem Verein betroffener Eltern in Leipzig. Vor allem Frauen wenden sich an diese Institution. Mehr als 2.000 Verdachtsfälle gebe es mittlerweile, sagt Matthias Jügler.

Man habe die Kinder damals nach der Geburt nicht sofort sehen dürfen. Stunden oder Tage nach der Geburt sei den Müttern dann verkündet worden, ihre Kinder seien tot. "Und irgendwann merkten sie, diese Mütter – und so auch die Karin, deren Geschichte ich in 'Maifliegenzeit' erzähle, dass irgendwas nicht stimmt, ganz offensichtlich. Aber es ist ganz schwierig, diesen Dingen auf den Grund zu kommen. Ganz oft hat man nur die Vermutung, hier stimmt etwas nicht. Das nachzuweisen, ist extrem schwierig."

Im Roman finden Vater und Sohn sich wieder

Anders als seine damalige Frau Katrin will Hans den Dingen nicht auf den Grund gehen. Anders als sie findet er sich ab mit der offiziellen Version der Geschichte, Katrin zerbricht innerlich, die Ehe geht kaputt, sie stirbt nach der Wiedervereinigung. Bei ihrer letzten Begegnung verspricht Hans ihr, endlich auf die Suche zu gehen. Er stößt im Krankenhaus auf weitgehend geschwärzte Patientenakten, erkundigt sich bei verschiedenen Jugendämtern, nimmt Kontakt zu einer Rechtsmedizinerin auf. Schließlich muss er sich anhören, er ziehe Verbindungen, die es nicht gebe. Er gibt wieder auf. Irgendwann aber ruft sein Sohn an. Die Szene, ein existentieller Wendepunkt, steht am Anfang des Romans.

Hans‘ Sohn wohnt im Süden von Leipzig. Die beiden treffen dort einander, nach 40 Jahren. Daniel trägt nicht nur einen anderen Namen, Martin, er ist auch mit einer ganz anderen Version der Geschichte aufgewachsen. Die Annäherung von Vater und Sohn gestaltet sich alles andere als einfach, ob sie, im eigentlichen Sinn, überhaupt möglich ist, lässt der Roman offen, auch wenn er eine Richtung andeutet.

Jügler erzählt von der Erfahrung, in einem Unrechtsstaat zu leben

Einmal mehr macht Matthias Jügler die Geschichte der DDR, die Geschichte eines Unrechtsstaates, zum Gegenstand seines Schreibens. Er zeigt, welches Potenzial die Literatur bei der Beschäftigung mit der Zeitgeschichte haben kann. Man könne, so sagt Jügler, ein Leben verfolgen. Erfahrungen mitteilen, die das Leben in der DDR auch prägten. "Das Buch ist keine Erklärung dafür, warum die Leute im Osten sind, wie sie sind", betont Jügler. "Aber es ist vielleicht ein Mosaiksteinchen von ganz vielen. Für mich ist Lesen Erfahrung machen. Und man kann nie genug Erfahrungen im Leben machen. Alles, was wir sagen und tun, basiert auf den Erfahrungen, die wir gemacht haben."

Bei der Maifliegenzeit, die dem Roman den Titel gegeben hat, handelt es sich um ein Naturschauspiel am Fluss. Matthias Jügler beschreibt es in seinem Buch: Jedes Jahr in den Tagen um Pfingsten schlüpfen die Larven der Eintagsfliegen vom Grund und steigen zu Tausenden in die Höhe. Aus der Tiefe, aus dem Verborgenen kommt etwas ans Licht.

Der Roman "Maifliegenzeit" von Matthias Jügler ist bei Penguin Books erschienen.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!