Wolfgang Herrndorf auf der Leipziger Buchmesse 2007.
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Wolfgang Herrndorf auf der Leipziger Buchmesse 2007.

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"Herrndorf" von Tobias Rüther: Das Heute umarmen

Der Journalist Tobias Rüther hat eine Biografie des 2013 verstorbenen deutschen Schriftstellers Wolfgang Herrndorf geschrieben. Ihm ist ein einfühlsames Buch gelungen, das trotz großer Zugewandtheit ohne unnötige Überhöhung auskommt.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

17,1 Monate bleiben ihm noch. Das errechnet Wolfgang Herrndorf am Tag der Diagnose: Glioblastom, ein Hirntumor, nicht therapierbar. Doch wichtig ist ihm nicht die Frage, wie viele Monate er noch hat. Er will wissen, wie viel Zeit ihm noch bleibt, um ein Buch fertig zu schreiben.

Am Ende werden es drei neue Bücher sein und dreieinhalb Jahre. Bevor der Krebs ihn tötet, nimmt sich Herrndorf im August 2013 am Berliner Hohenzollernkanal das Leben. Die Texte, die er hinterlässt, sind völlig unterschiedlich, inhaltlich und formal: ein Pop-Roman und ein wenig bekannter Erzählband. Das gefeierte und später verfilmte Jugendbuch "Tschick"und ein Thriller. Dazu das Internettagebuch "Arbeit und Struktur", dessen Einträge immer kürzer werden, je weniger der Krebs zulässt, klare Gedanken zu formulieren.

Wie funktioniert ein Roman?

"Diese unterschiedlichen Formate hält zusammen, dass da ein Autor am Werk ist, der sich ungeheuer interessiert hat für das Gemachte der einzelnen Textformen. Wie funktioniert ein Roman? Wie funktioniert das bestmögliche Jugendbuch? Wie schreibt man ein Tagebuch in hochgradiger, skrupulöser Selbsterforschung, ohne dabei kitschig zu sein", sagt Tobias Rüther, Journalist und Autor von "Herrndorf", einer Biografie.

Rüther hat viele von Herrndorfs Büchern besprochen – ohne ihm jemals begegnet zu sein. Herrndorfs Eltern und seine Witwe hatten die Idee, Rüther auf eine mögliche Biografie anzusprechen. Sie gaben ihm Einblick in Briefe und Hinterlassenschaften, führten unzählige Gespräche und nahmen ihn mit an die Orte von Herrndorfs Leben.

Aufgewachsen in Norderstedt an der Stadtgrenze Hamburgs, studiert Wolfgang in Nürnberg Malerei. Eigentlich aber studiert er einen Maler: Jan Vermeer. Die Wolken über den Ziegelmauern von Delft, das einfallende Licht im Zimmer der Briefleserin: Die Bilder des Niederländers wirken, so sagt es Herrndorf, "wirklicher als die Wirklichkeit".

Er vergöttert Vermeer – und eignet sich dessen Technik an. Der Impuls, sich an großen Meistern zu orientieren, wird später zur Triebfeder des Herrndorfschen Schreibens. Rüther dazu: "Es gab im Grunde immer ein Maß, an dem er gemessen hat. Da ist jemand, eine Autorin, um auch mal Karen Duve zu nennen, ein Autor Christian Kracht oder Thomas Mann. Die haben das, was ich will, schon geschafft. Und ich schreibe mich jetzt in deren Regionen. Ich versuche, genauso toll wie Thomas Mann technisch Figuren auftreten und wieder abtreten zu lassen."

Einzelgänger mit sozialer Triebfeder

Die zweite große Triebfeder ist das Soziale – auch, wenn Herrndorf es in widersprüchlicher Art auslebt. Seit 1997 lebt er in Berlin, in einer Hinterhofwohnung in Mitte. Unweit der Torstraße, die langsam zum Epizentrum des Kunst- und Gentrifizierungs-Berlins wird. In dieser Zeit nimmt Herrndorf Abstand vom Malen – und beginnt ernsthaft zu schreiben.

"Er ist ein unglaublicher Einzelgänger gewesen", sagt Rüther, "die Freunde haben sich zum Teil nicht getraut, ihn anzurufen, ob er in die Kneipe kommt, weil er sie am Telefon angeschrien hat, weil er gerade am Laptop wieder mal an irgendwas sitzt und schreibt. Gleichzeitig aber braucht er seine Freundinnen und Freunde. Der ist zurückgezogen, aber er braucht unglaublich den Input anderer Leute."

Diesen Input holt er sich über ein damals völlig neues Medium: das Internet. Im Forum der "Höflichen Paparazzi" schreibt ab 2001 ein bunter Kreis, vor allem Berliner. "Mit klugen Leuten dummes Zeug reden" lautet die Selbstbeschreibung – und Herrndorf geht darin völlig auf. Einerseits ist das Forum soziales Werkzeug: "Bier! Jetzt" heißt der Strang, in dem gemeinsames Trinken verabredet wird. Gleichzeitig schreibt Herrndorf dort unermüdlich, nutzt das Forum als Echokammer für Gedanken und Probebühne für Textideen. Er findet dort Sparringspartner und Freunde, die seine Texte tief beeinflussen.

In beiden Welten zu Hause

"Ich glaube, die Einzigartigkeit von Wolfgang Herrndorf für diese spezifische Generation besteht darin, dass er es geschafft hat, in beiden Welten gleichzeitig zu Hause zu sein", sagt Rüher, "dass man eben in den tiefsten kulturellen Traditionen stehen kann, im Grunde mit einem Handstreich alles, was nach Vermeer kam, zu verachten. Und gleichzeitig aber Hollywood, das Kino von heute, die Literatur von heute, das Internet zu umarmen."

Man wünscht sich, Herrndorf könnte die Sprache studieren, die wir in den sozialen Medien sprechen. In ihr keinen Widersprich sehen zur kulturellen Tradition. Und darüber ein Buch schreiben, das seinen Leserinnen und Lesern genau das ebenfalls zutraut: Keinen Verfall zu sehen, sondern das Heute in seiner Spezifik zu umarmen. "Ich kann mir gar nicht ausmalen, was wir alles noch von Wolfgang Herrndorf hätten bekommen können, wenn er mehr Zeit gehabt hätte", meint Rüther.

Tobias Rüther gelingt ein Kunststück: Er kommt Herrndorf sehr nahe, schreibt mit großer Sympathie und macht keinen Hehl daraus, dass er Herrndorf für einen bedeutenden Schriftsteller hält. Gleichzeitig überhöht er den Schriftsteller nicht, hält sich bis zum Schlusssatz mit Einschätzungen zurück. Herrndorf selbst hat in seinem Testament verfügt, niemals Germanisten ranzulassen!" Ein Glück für ihn, dass es Tobias Rüther war, der ran durfte.

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