Der russische Präsident mit Sektglas prostet Gästen zu
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Putin bei einer Ordensverleihung

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"Gegenteil erreicht": Russlands Söldnerchef rechnet mit Kreml ab

In einem ausführlichen Interview teilt Jewgeni Prigoschin in alle Richtungen aus: Putin habe die Ukraine nicht "entmilitarisiert", sondern zur "zweitstärksten Armee der Welt" gemacht. Der Privatarmee-Chef warnte vor Atomwaffen - und lobte Nawalny.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Irgendwie klappt es bei uns nicht", so Jewgeni Prigoschin in einem gut einstündigen Gespräch mit dem russischen Journalisten Konstantin Dolgow: "Wir näherten uns Kiew und - ich sage es auf gut Russisch - Scheiße, wir zogen wieder ab. Wir gingen weiter nach Cherson - Scheiße, wir kehrten um." Putin habe zwei Ziele ausgerufen: Die Ukraine zu "entnazifizieren" und zu "entmilitarisieren". Was das erstere betrifft, sei sie zu einem Land gemacht worden, das "in der ganzen Welt bekannt" sei und eine "Blütezeit wie die Griechen und Römer in ihrer besten Phase" erlebe. Und die Zahl der Panzer in der Ukraine sei verzehnfacht worden, behauptete Prigoschin: "Jetzt stellt sich heraus, dass wir - der Teufel weiß wie - das Gegenteil von dem erreicht haben, was wir wollten und die Ukraine militarisiert haben."

"Fangt an, eure Kinder zu begraben"

Aus Höflichkeit müsse er die russische Armee auf dem Platz nach seiner erstklassigen Söldnertruppe zwar als "zweitstärkste" der Welt bezeichnen, so der Kriegsunternehmer, doch tatsächlich sei die Ukraine mit "allen Waffensystemen gleichermaßen erfolgreich". An einem sehr aufgeräumten Schreibtisch vor einer Weltkarte sitzend empfahl Prigoschin der russischen "Elite", ihre Kinder an die Front zu schicken: "Wenn ihr zur Beerdigung geht, wenn ihr anfangt, sie zu begraben, dann werden die Leute sagen: Jetzt ist alles gerecht." Andernfalls drohe Russland eine blutige "Bartholomäusnacht", die "alles in einem Moment beenden" könne wie bei der Oktoberrevolution 1917.

Prigoschin glaubt nach eigener Aussage nicht an ein "optimistisches Szenario", wonach die Front "eingefroren" wird. Vielmehr werde die Ukraine versuchen, die Grenzen von 2014, also vor der Annexion der Krim, wiederherzustellen. Daher drohe ein "harter Krieg", für den auch weitere Mobilisierungwellen nötig seien: "Russland muss für eine bestimmte Anzahl von Jahren nach dem Vorbild Nordkoreas leben, alle Grenzen schließen, aufhören, albern zu sein, alle seine Jugendlichen aus dem Ausland holen und hart an sich arbeiten. Dann werden wir zu einem Ergebnis kommen."

"Fronteinsatz senkt Aggressionsniveau"

Anders als mancher Scharfmacher im Kreml hält der Söldnerchef das Drohen mit dem Einsatz von Atomwaffen für wenig zielführend. "Wenn du dich mit deinem Nachbarn streitest, kannst du ihm das Gesicht zerkratzen oder sein Geschirr zerschlagen. Aber wenn du dir eine Axt holst und ihm den Kopf spaltest, ist das irgendwie seltsam. Die Atombombe ist so eine Axt."

Bemerkenswerter Weise lobte Prigoschin den inhaftierten Regimekritiker Alexej Nawalny. Er und seine Leute hätten mit ihren investigativen Ermittlungen korrupte Oligarchen in Angst und Schrecken versetzt: "Das war sehr hilfreich. Denn immer, wenn Nawalny anfing herumzuschreien, war es für irgendeinen Konzernchef plötzlich gefährlich, Schmiergeld abzuheben." Insofern habe der prominente Putin-Gegner den "Hurra-Patriotismus" in Schach gehalten: "Es muss begrenzende Faktoren geben."

Was seine eigene Truppe betrifft, behauptete Prigoschin, deren Angehörige hätten "weniger als hundert Kriegsverbrechen" begangen und damit "25 Mal weniger als statistisch zu erwarten gewesen wäre". Durch Fronteinsätze sinke das "Aggressionsniveau" ganz erheblich. Allerdings werde die "Gruppe Wagner" vom Verteidigungsministerium und der Präsidialverwaltung schlecht geredet: "Es darf niemanden geben, der heiliger ist als die Heiligen." Sein "politisches Credo" fasste Prigoschin so zusammen: "Ich liebe meine Heimat, ich gehorche Putin, [Verteidigungsminister] Schoigu ist mir egal, wir werden weiter kämpfen."

"Er lügt wie ein Wallach"

Schlagzeilen machte Prigoschin mit der Angabe, von den rund 50.000 ehemaligen Gefängnisinsassen, die er rekrutiert habe, seien zwanzig Prozent gefallen, weitere zwanzig Prozent verwundet worden. Insgesamt habe er im ersten Kriegsjahr 20.000 Tote zu beklagen: "In Afghanistan sind viel weniger Menschen gestorben als jetzt in Artjomiwsk [Bachmut]." Zu diesen Zahlen sagte der Blogger Igor Strelkow: "Prigoschin lügt wie ein Wallach. Wenn er noch kampfbereit ist, warum wird eine so 'erfolgreiche' Operation [wie bei Bachmut] dann nicht fortgesetzt?" Tatsächlich seien wohl eher 66.000 Söldner gefallen oder außer Gefecht gesetzt worden. Auch der kremlnahe Politologe Sergej Markow meinte: "Die Zahlen sind nicht ganz klar. Generell ist das unverständlich." Markow vermutete, dass die angebliche Eroberung von Bachmut auf beiden Seiten ungefähr so viele Opfer gefordert habe wie die Stadt einst Einwohner hatte: Rund 70.000.

Weiter meinte der in russischen Medien viel gefragte Politologe: "Nur Jewgeni Prigoschin hat das Recht, die russische Armee zu kritisieren. Weil er die Gruppe Wagner gegründet hat. Ich bitte alle anderen darum, jetzt nicht die russische Armee zu kritisieren. Es besteht die Möglichkeit, Managementfehler und Lieferengpässe zu kritisieren. Sie können die Militärbürokratie kritisieren. Angehörige von Beamten können lächerlich gemacht werden. Es ist aber unmöglich, die russische Armee zu diffamieren. Und wenn die russische Armee scheitert, ist das umso unmöglicher."

"Ich kann nicht mal kochen"

In russischen Netz-Kommentaren hieß es, Prigoschin unterstütze mit seinen Aussagen die Ukraine "psychologisch", zumal er schon häufiger ihren Kampfgeist gewürdigt habe. Im Grunde denke der Privatarmee-Besitzer nur noch daran, wie er "vom Boot springen" könne, meinte ein Blogger: "Vielleicht gelingt es ihm, sich nach Afrika abzusetzen." In einem weiteren Meinungsbeitrag hieß es, der Söldnerchef habe mit dem stundenlangen Interview wohl seinen "Wahlkampf für die Präsidentschaft gestartet".

Übrigens reagierte Prigoschin auf den Spitznamen, der über ihn in Umlauf ist: Demnach ist er "Putins Koch", weil er im Catering-Geschäft tätig ist und auch den Kreml belieferte: "Als zuvorkommender Besitzer eines Restaurants war ich ständig unterwegs, habe mich mit Leuten getroffen, geplaudert, war geschäftlich im Einsatz. Ich kann nicht mal kochen." Scherzhaft fügte der Oligarch an, wenn die Leute ihn "Putins Metzger" getauft hätten, wäre "alles in Ordnung" gewesen.

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