An einem Kartentisch stehend
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Valery Zorkin (links) und Wladimir Putin

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"Völlig ausgeflippt": Putin sorgt mit Landkarte für Aufregung

Bei einem Treffen mit Russlands oberstem Richter kommentiert der russische Präsident eine historische Karte aus Frankreich, auf der die Ukraine angeblich nicht vorkommt. Das sorgt im In- und Ausland für harsche Reaktionen, das sei "Zen-Geografie".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das "Risiko" hat sich offenbar gelohnt: Der Vorsitzende des russischen Verfassungsgerichts, Valery Sorkin (80), brachte zum Treffen mit Wladimir Putin eine französische Landkarte aus dem 17. Jahrhundert mit, nach eigener Aussage "um der Wahrheit willen". Wörtlich sagte Russlands oberster Jurist: "Warum habe ich sie mitgebracht? Wladimir Wladimirowitsch, darauf gibt es keine Ukraine." Putin zeigte sich begeistert von dem Fund und nutzte ihn für eine skurrile Behauptung: "Erst nach der Oktoberrevolution begannen sich alle möglichen quasistaatlichen Formationen zu bilden, und die Sowjetregierung schuf die Sowjetukraine. Das ist jedem bekannt. Davor gab es in der Geschichte der Menschheit keine Ukraine." Die fraglichen Gebiete hätten in alten Zeiten "darum gebeten", Teil des Zarenreichs zu werden.

"Spekulationen beendet"

Sorkin nutzte die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass "alle Richter des Verfassungsgerichts jetzt in der Ukraine strafrechtlich verfolgt" würden, weil sie die Annexion der Krim 2014 abgesegnet hatten. Offenbar hat der Spitzenjurist diesbezüglich doch ein ungutes Gefühl, das er mit der öffentlichen Präsentation der Landkarte in den Griff bekommen wollte: "Das Wichtigste ist, dass nicht wir diese Karte angefertigt haben, sondern die Franzosen." Der russische Präsident wollte vor allem wissen, wo der Archiv-Fund veröffentlicht werde und hielt "Übersetzungsfehler" auf dem Papier für lässlich. Die Karte zeige eben, wie das "wahre Leben in der Welt" damals gewesen sei.

Im russischen Staatsfernsehen wurde an prominenter Stelle über die bizarre Debatte zwischen Sorkin und Putin berichtet: "Diese Karte kann laut Sorkin einer Reihe von Spekulationen darüber ein Ende setzen, wie und wann die Ukraine entstanden ist." Alle, die Russlands Haltung kritisierten, würden die "Geschichte umschreiben" und sollten sich daran machen, die "Landkarten von Ludwig XV. zu überarbeiten", hieß es.

"Neuigkeiten aus dem Pflegeheim"

Wie sich herausstellte, gibt es auf der fraglichen Karte von Guillaume Sanson (1633 - 1703) tatsächlich eine Ukraine mit dem Untertitel "Land der Kosaken", das Werk ist in hoher Auflösung im Netz auf der Seite der Französischen Nationalbibliothek abrufbar. Allerdings schlägt Sanson die westliche Ukraine dem Königreich Polen zu, der östliche Teil wird auf der Karte als "Petite Tartarie" bezeichnet, also "Kleines Tartarenreich". Putins und Sorkins Behauptung, es gebe auf dem Überblicksplan keine Ukraine, bezieht sich also lediglich darauf, dass sie nicht als eigener Staat ausgewiesen ist, Russland übrigens auch nicht. Sanson vermerkte stattdessen ein "Königreich Kasan", ein "Herzogtum Moskau" und ähnliche Gebilde, die mit heutigen Nationalstaaten nicht vergleichbar sind.

Im russischsprachigen Netz wird Putins jüngster "Geschichtskurs" als "völlig ausgeflippt" und "Zen-Geografie" verhöhnt. Ebenso gut könne er "Karten von Kapitän Nemo oder Sindbad dem Seefahrer" vorlegen. Gerichtspräsident Sorkin habe sich als "gerissener Anwalt" erwiesen, lobte ein Kommentator sarkastisch: "Es ist allerdings nötig, ihn in seiner eigenen Manier darauf hinzuweisen, dass Russland auch erst ab 1721 auf Landkarten auftauchte." Mit Blick auf das hohe Alter von Sorkin und Putin gab es auch Häme, es handle sich um "Neuigkeiten aus dem Pflegeheim", die "glücklichen Opas" seien offenbar überzeugt, dass sie "gute Typen" seien. Putin habe in der Schule wohl nicht "gut aufgepasst", schließlich sei Russland aus der "Kiewer Rus" entstanden.

"Kiew ist doppelt so alt wie Moskau"

Spötter erinnerten daran, dass es auf Landkarten aus dem 15. Jahrhundert "noch kein Amerika" gegeben habe. Ein Blogger empfahl Putin, auf historischen Landkarten nach Israel zu suchen und "mit diesem Thema auf Sendung zu gehen". Der russische Bündnispartner Nordkorea sei zum Beispiel auch nicht auf alten Karten zu finden. Es war von einem "Treffen der Irren" die Rede: "Auf jeden Fall ist es im 21. Jahrhundert anmaßend, darüber zu streiten, wer es verdient, ein Staat zu sein und wer nicht – das ist mindestens dumm, führt aber in größerem Maße zu einem Gefühl der Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen. Und dieser Weg führt zu verbrecherischen Taten."

Die Vorstellung, Sorkin präsentiere Putin eine Karte der Mongolei aus dem 13. Jahrhundert sei "lustig", war in einem der zahlreichen Kommentare zu lesen. Damals habe die Gegend noch nicht zu Russland gehört, sondern dem "Dschötschi", wie der älteste Sohn von Dschingis Khan hieß. Und "Putinostan" vermisse man auch in älteren Atlanten. Kiew sei "doppelt so alt wie Moskau", wagte jemand zu behaupten, ein anderer empfahl Putin, sich eine "große Lupe" zu besorgen. St. Petersburg müsse der viel diskutierten Karte zufolge "dringend an Schweden zurückgegeben werden".

"Hoffe wirklich, dass wir alle die Prüfung bestehen"

Verfassungsgerichtspräsident Sorkin musste sich übrigens kürzlich anhören, so parabelhaft zu reden wie einst der griechische Dichter Äsop, der für seine gleichnishaften Tierfabeln berühmt wurde. In einem Grundsatzvortrag hatte Sorkin "allegorisch" die Unterwürfigkeit der Juristen gegenüber Politikern gegeißelt, dabei allerdings nicht Putin erwähnt, sondern dessen Vorgänger Boris Jelzin. Außerdem warnte er in einem weiten historischen Bogen vor "Nihilismus" und vor dem "Diktat der Macht um der Macht willen".

Auch Michael Gorbatschow, der letzte Staatschef der Sowjetunion, wurde als "Abtrünniger" getadelt, der nicht wie einst der französische König Ludwig XVI. auf der Guillotine gestorben sei, sondern den "Übergang zur Republik" sogar "als Triumph genossen" habe. Wörtlich hatte Sorkin gesagt: "In den letzten Jahrzehnten haben wir begonnen, die ursprüngliche Bedeutung des Wortes 'Elite' (also die Auswahl der Besten) zu vergessen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Pflicht eines Vertreters der Elite gemäß seiner eigentlichen Mission darin besteht, dem Vaterland nicht aus äußerer Pflicht und Zwang, sondern wegen seines Gewissens und seiner Ehre zu dienen. Jetzt werden nicht nur die politische Elite, sondern auch die geistige und intellektuelle Elite Russlands, sowie die Wirtschaftselite auf ihre Fähigkeit geprüft, dem Land in einer für das Land außerordentlich schwierigen Zeit zu dienen. Ich hoffe wirklich, dass wir alle diese Prüfung ehrenhaft bestehen."

Dazu hatte die "Nesawissimaja Gazeta" kommentiert: "Es scheint nicht die Frage zu sein, ob Sorkins Warnungen jemals beachtet werden, es ist wichtiger zu verstehen, dass an der Spitze möglicherweise nicht die Fähigkeit vorhanden ist, solche Warnungen wahrzunehmen."

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