Mann betritt eine Bankfiliale, in deren Schaufenster Umtauschkurse angezeigt werden
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Bittere Wahrheit: Währungskurse in Moskau

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"Kreml ist verwirrt": Rubel-Absturz wegen Russlands Kriegskosten

Obwohl die russische Zentralbank den Leitzins drastisch erhöhte, ging die Talfahrt der Währung ungebremst weiter. Die Inflation erreicht Rekordwerte, Experten warnen vor dem "Gelddrucken": Putins Krieg kommt die "geschockten" Russen teuer zu stehen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

An Ratschlägen herrscht kein Mangel, auch nicht an satirischen: Ein russischer Leser empfahl dem Kreml, auf die Rubelmünzen doch auch den amerikanischen Wahlspruch "In God We Trust" (Wir vertrauen auf Gott) zu prägen, wie er seit 1955 per Gesetz auf allen Dollarmünzen und -scheinen zu lesen ist. Womöglich lasse sich die Lage mit himmlischem Beistand verbessern. Der rechtsextreme Philosoph Alexander Dugin, einer der wortmächtigsten Kriegsfanatiker, schreibt wutentbrannt: "Beginnen wir darüber nachzudenken, wie fehlerhaft, betrügerisch und unfair der Kapitalismus ist. Die Zukunft der russischen Wirtschaft erfordert strategische Tiefe." Er fürchtet, die russischen Finanzbehörden hätten "überhaupt keinen Plan" und forderte die "Abschaffung des Wuchers". Im Übrigen dürfe kein Russe mehr US-Dollar kaufen.

"Versuch, Feuer mit Kerosin zu löschen"

Damit steht Dugin allerdings ziemlich allein da. Nachdem der Rubel in den letzten Monaten gegenüber dem US-Dollar knapp vierzig Prozent an Wert verlor und zeitweise unter einen US-Cent fiel, war die Aufregung so groß, dass die russische Zentralbank eilig den Leitzins von 8,5 auf zwölf Prozent erhöhte - ohne nennenswerte Wirkung, wie sich schon nach einer halben Stunde herausstellte. Die Rubel-Talfahrt, die einem Absturz gleichkommt, ging unvermindert weiter. Der Propagandist Sergej Markow sieht die Bevölkerung unter "Schock" und schrieb: "Der Kreml ist verwirrt." Er fragt sich bereits, ob die Führung der Zentralbank "durchhalten" kann.

Ein viel gelesener Blogger aus Pskow gab sich sarkastisch: "Zuerst saßen sie lange da wie ein Hund in Flammen und taten so, als wäre alles in Ordnung, die Situation sei unter Kontrolle und der Rubelabsturz sogar von Vorteil. Dann gerieten sie plötzlich in Panik. Von den Finanzbehörden erwartet die Gesellschaft vor allem, dass sie Vertrauen in das eigene Handeln und die gewählte Strategie beweisen. Heute sahen wir statt Zuversicht krampfhafte Versuche, den Dollar wieder unter 100 Rubel zu drücken. Es besteht jedoch das Gefühl, dass dies ein Versuch ist, ein loderndes Feuer mit Kerosin zu löschen."

"Coca-Cola" aus dem Iran

Als der US-Nachrichtendienst Bloomberg meldete, der Kreml plane eine Rückkehr zu Kapitalkontrollen, also eine Zwangsbewirtschaftung von Devisen, wie sie unmittelbar nach Kriegsausbruch angeordnet wurde, legte der Rubel zwar geringfügig zu, doch viel bringen werde so eine Maßnahme nicht, meinen die US-Experten: "Die Ursachen für den Rückgang des Rubels sind hausgemacht und haben wenig mit Schockeffekten aus dem Kapitalabfluss ins Ausland zu tun, gegen die Kapitalkontrollen am besten geeignet sind. Kapitalbeschränkungen werden überdies die gerade entstandenen Lieferketten beschädigen, die Russland aufzubauen versuchte, um Sanktionen zu umgehen." Diese "Lieferketten" sind übrigens mitunter grotesk: So gibt es in Russland neuerdings "Coca-Cola" und andere bekannte Limonaden aus angeblich iranischer Produktion - obwohl das Land der Mullahs schon seit Jahrzehnten nichts mehr mit dem US-Konzern zu tun hat, der Geschmack allerdings auch nicht, wie Blogger beteuerten.

"Noch keine Gelddruckerei"

Wirtschaftsexperte Konstantin Sonin verwies darauf, dass der vermeintlich "starke" Rubel im vergangenen Jahr politischen Sondereffekten zu verdanken war, wie einer strengen, durch Ausfuhrverbote manipulierten Kurspflege und einem drastischen Rückgang der Einfuhren. "Derzeit wird der Hauptdruck auf den Rubel durch die ständig steigenden Militärausgaben ausgeübt", so der Fachmann: "Dabei handelt es sich noch nicht um eine vollständige Finanzierung durch eine 'Gelddruckerei', da die Regierung die Ausgaben für Gesundheitsfürsorge, Bildung usw. kürzt. Allerdings weitet sich das Defizit sowohl aufgrund sinkender Einnahmen [durch Öl- und Gasexporte], als auch aufgrund erhöhter Militärausgaben aus." Das sogenannte "Wachstum" der russischen Wirtschaft beruhe ganz allein auf der Rüstungsbranche, die sich vom Leitzins in keiner Weise beeindrucken lasse. Andere Wirtschaftszweige dagegen würden dadurch noch weiter "gedämpft".

Einer der Kreml-Propagandisten vertrat genau die gegenteilige Ansicht und verteidigte die absolute Dominanz der Rüstung in der gegenwärtigen Situation: "Das Produktionswachstum im militärisch-industriellen Komplex hat einen direkten positiven Effekt auf die Wirtschaft, und dieser ist groß. Nicht umsonst nutzte Amerika in Zeiten von Wirtschaftskrisen staatliche Investitionen in den militärisch-industriellen Komplex als einen der Anreize für das Wirtschaftswachstum und stimulierte sie künstlich, unter anderem durch die Auslösung bewaffneter Konflikte auf der ganzen Welt." Die meisten großen Erfindungen der letzten Jahrzehnte, angefangen beim Internet, seien für "militärische Zwecke geschaffen" worden, so der Blogger: "So grausam es aus moralischer Sicht auch erscheinen mag, Krieg ist auch einer der Faktoren des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts."

"Versagen der Zentralbank führt zu großer Finanzkrise"

In einem der größten russischen Blogs, "Russland kurzgefasst" mit fast 500.000 Followern war eine Analyse über den Niedergang des Rubels zu lesen, die Putin ein desaströses Zeugnis ausstellte: "Ökonomen sagen, einer der Gründe für die Schwäche des Rubels sei, dass viele Exporteure es nicht eilig hätten, ihre Auslandserlöse ins Land zurückzubringen. Die Währung wird zu einem zu wertvollen Vermögenswert, um sie mit dem Staat zu teilen." Die "ideologische Einstellung des Kremls", den Dollar als Leitwährung aufzugeben, habe dem heimischen Devisenmarkt schwer geschadet: "Russland leidet unter einem kritischen Mangel an harter Währung und weiß nicht, was es mit Ersatzwährungen [wie dem chinesischen Yuan und der indischen Rupie] anfangen soll. Das Versagen der Zentralbank und des Finanzministeriums bei den Sanktionen gegen den Dollar führt zu einer großen Finanzkrise."

"Russland braucht Dollar und Euro"

Einer der systemnahen, populären Polit-Blogger sprach sogar von einem "Bumerang", der die Stirn Russlands getroffen habe: "Das Vorhaben, auf Abrechnungen in den Währungen befreundeter Staaten umzusteigen, führte dazu, dass das Land Einlagen von illiquiden Vermögenswerten in Fremdwährung erhielt, die weder vom Rubel noch von der Wirtschaft getragen werden können. Russland braucht Dollar und Euro, und zwar am liebsten in den Mengen, die in jenen friedlichen Zeiten in das Land flossen, als die Partnerschaft mit dem Westen weder als Bedrohung der Souveränität noch als Herausforderung für die multipolare Welt angesehen wurde."

Zweifel an Fähigkeiten der Zentralbank

Offenbar verliere der Kreml die Möglichkeit, den Rubelabsturz zu bremsen, hieß es beim Telegram-Portal "Nezygar" (330.000 Abonnenten). Es wurde vermutet, dass Putin erhebliche Dollar- und Eurobeträge für "Grauimporte" ausgeben muss, also Waren, die auf illegalen Wegen nach Russland eingeführt werden. Das Land ist dringend auf den Import höherwertiger Güter angewiesen, vom Kühlschrank bis zum Mikrochip: "Den Kommentaren der Zentralbank nach zu urteilen, verfügt diese Regulierungsbehörde entweder über Informationen, die nicht nur für Experten, sondern auch für einzelne mächtige Marktakteure unzugänglich sind, oder sie ist aus irgendeinem Grund nicht in der Lage, die Situation zu kontrollieren." Der Zentralbank seien anscheinend die Hände gebunden, stärker gegen die sich abzeichnende Inflation vorzugehen.

"Es geht gar nicht um den Zinssatz"

Blogger und Politologe Kirill Kachur meint: "Es geht überhaupt nicht um den Zinssatz und nicht einmal die Zentralbank, sondern um das heruntergekommene und ineffiziente Wirtschaftsmodell in Russland. Solange es kein effektives Wirtschaftsmodell gibt, solange es keine ordnungsgemäße Entwicklung und Investition von Supergewinnen in unsere eigene Wirtschaft und Produktion gibt, wird unsere Landeswährung von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer schwächer." Das ist als Kritik daran zu verstehen, dass zahlreiche Oligarchen mehr daran interessiert waren und sind, ihre Profite im Ausland zu parken, statt sie in die eigenen Betriebe zu lenken.

"Tatsächlich gibt es eine Vertrauenskrise in den Rubel, und die Bank von Russland wird sie mit ihren panischen Maßnahmen wahrscheinlich nicht überwinden können", so Sergej Alexsaschenko, ein ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Zentralbank gegenüber der "Moscow Times". Andere Experten sagten voraus, dass das Verbrauchervertrauen in etwa sechs Monaten seinen Tiefpunkt erreichen dürfte, da die drastischen Folgen der Inflation verzögert eintreten würden. Das wäre dann genau zur kommenden Präsidentschaftswahl, bei der Putin angeblich mindestens 85 Prozent der Stimmen erreichen will.

"Rubel-Schicksal wird von Putins Aggressivität abhängen"

Viele Russen würden nicht mehr in der Lage sein, sich selbst zu "retten", sagte sogar der Beauftragte Putins für Unternehmerangelegenheiten, Boris Titow. Im britischen Fachblatt "Economist" war zu lesen, nur der argentinische Peso, der venezolanische Bolivar und die türkische Lira seien in diesem Jahr schwächer als der Rubel: "Aufgrund der Isolation des Landes ist es unwahrscheinlich, dass eine Zinserhöhung 'heißes Geld' [aus dem Ausland] anzieht. Stattdessen wird der Fokus auf dem russischen Kapital liegen, dem nun die Flucht droht. Strengere Kapitalkontrollen könnten den Abfluss stoppen, aber das wird Zeit brauchen."

Eine weitere Möglichkeit sei die direkte Intervention auf den Devisenmärkten: "Die Regierung könnte die Ausgaben, auch für das Militär, kürzen, um die Importe zu verringern. Andernfalls, und das ist durchaus wahrscheinlich, wird die zivile Wirtschaft einen Schlag erleiden. Steigende Inflation und steigende Zinsen werden die Kaufkraft der einfachen Russen verringern und sie dazu zwingen, weniger ausländische Waren zu kaufen. Daher wird das Schicksal der russischen Wirtschaft nicht von den Urteilen internationaler Finanziers abhängen, sondern vom Grad der Aggressivität Putins. Das ist eine viel peinlichere Situation."

Ein Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" brachte das auf den Punkt: "Keine Konsumgüterproduktion, keine [angemessenen] Einkommen, keine Nachfrage, keine Steuereinnahmen. Wie sollen da die Aussichten für unsere Landeswährung sein?"

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