Eine Rubel-Münze vor einer Dollar-Banknote
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Rubel in Nöten

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"Vertrauen erschüttert": Rubel-Absturz schockiert Russland

Die russische Landeswährung im freien Fall: Ein Dollar kostet inzwischen wieder mehr als 100 Rubel, wie zuletzt kurz nach Kriegsausbruch. Das empört Propagandisten und erschüttert das Ansehen des Kremls, der sich in einer "Parallelwelt" einrichtet.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Das Einzige, was die Russen verunsichern und ihr Vertrauen in die Regierung erschüttern kann, ist der Wechselkurs des Rubels", schreibt ein russischer Blogger in seinem Telegram-Kanal und illustriert diese Aussage mit zwei parallel laufenden Kurven: Die Zustimmung zu Putin stürzt nach angeblich von staatlichen Stellen durchgeführten Meinungsumfragen demnach in diesen Tagen ähnlich ab wie der Rubelkurs. Wenn die russische Regierung erst mal anfange, an ihre eigene Propaganda zu glauben und sich in einer Parallelwelt einrichte, dann sei das "aller traurigste" zu erwarten, so der viel zitierte Blogger Sergej Udalzow: "Es scheint, dass dieser Augenblick nicht mehr fern ist."

Grund für seinen Frust: Offizielle russische Vertreter versuchen, den Absturz des Rubels schönzureden. So sagte der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für den Finanzmarkt, Anatoli Aksakow, er selbst behalte das Wechselkursverhältnis zwar im Auge, aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit spiele es aber keine Rolle. In seinem Wahlkreis jedenfalls werde mit "einem Lächeln im Gesicht" weitergearbeitet wie eh und je, es gebe keinerlei "Stress" wegen der Entwicklung auf dem Finanzmarkt.

"Du wirst verrückt"

So locker nimmt es sonst kaum jemand. Der Chefkommentator der auflagenstarken "Moskowski Komsomolez", Michail Rostowski, schimpfte ungewöhnlich freimütig über die russische Regierung: "Ihre Beteuerungen erwecken ungefähr das gleiche Maß an Vertrauen wie beispielsweise die Ankündigung eines Flugzeugpiloten: Einer der Flügel unserer Maschine ist zwar abgefallen. Aber keine Sorge! Die Sicherheit des Fluges wird dadurch in keiner Weise beeinträchtigt!" Die Regierung "als Ganzes" sehe "überhaupt nicht überzeugend" aus - und zwar selbst nach den "wirklich bescheidensten" Maßstäben.

Im sibirischen Surgut gelang es Hackern während einer örtlichen Festveranstaltung, das Laufband einer örtlichen Nachrichtenagentur zu manipulieren. Dort war für einige Minuten zu lesen: "Putin ist ein Drecksack und ein Dieb, 100 Rubel für einen Dollar, du wirst verrückt." Die ansonsten stramm propagandistische Nachrichtenagentur RIA Nowosti gab zu bedenken, dass der Rubel im Sommer zu den drei schwächsten Währungen der Welt gehöre.

Regierung rechnet mit "Normalisierung"

Selbst der Putin-Berater Maxim Oreschkin zeigte sich in einem Gastbeitrag für die staatliche Nachrichtenagentur TASS alarmiert. Ein starker Rubel liege im Interesse der Wirtschaft, behauptete er. Der Absturz erschwere den "Umbau der Wirtschaft" und wirke sich negativ auf die Realeinkommen der Russen aus. Für die Rubel-Schwäche machte Oreschkin allein die russische Zentralbank und deren "lockere Geldpolitik" verantwortlich. Es würden im Land viel zu viele Kredite vergeben, gerade auch an Verbraucher. Die Haushaltslage sei dagegen nicht dramatisch. Die Regierung habe die Situation "stabilisiert".

Oreschkin rechnete in "naher Zukunft" mit einer "Normalisierung". Dafür wurde er umgehend von systemkritischen Bloggern wie Sergej Alexaschenko verhöhnt: "Als er diese Prognose hörte, sprang der Dollar entsetzt auf 100, dann auf 101 Rubel und flüchtete noch weiter vor dem Kreml." Die Wechselstuben in St. Petersburg beklagten, dass ihre Anzeigetafeln überfordert sind: Sie sind nur vierstellig, was jetzt nicht mehr ausreiche (wenn beim Rubel/Dollarkurs die üblichen zwei Stellen hinter dem Komma mit berücksichtigt werden). Dass Oreschkin mit keinem Wort den Finanzminister kritisierte, fiel der russischen Fachpresse ebenfalls nicht gerade angenehm auf: "Macht Anton Siljanow alles richtig?"

Russland stecke in der zweitschlimmsten Rubelkrise seiner Geschichte, sagten Experten: "Die Währungskrise provoziert eine Schuldenkrise, die dramatische Folgen haben kann, sowohl durch eine Beschleunigung der Kosten für den Schuldendienst als auch durch Liquiditätslücken." Der neueste Absturz habe auch mit der gescheiterten Rebellion der "Wagner"-Söldner vom 24. Juni begonnen: "Da jemand verloren hat, der sein Geld in Sicherheit bringt und das Land verlassen hat, spielt das wahrscheinlich auch eine Rolle. Denn der Kapitalabfluss lässt sich nicht leugnen. Hier liegt eine Situation vor, in der die Regulierungsbehörden einfach eingreifen müssen."

Angst der Soldaten um "türkische Sanitäranlagen"

In einer denkbar sarkastischen Reportage hatte die oben erwähnte "Moskowski Komsomolez" kürzlich von einer "dramatischen Sitzung" der russischen Regierung zum "besorgniserregenden" Rubelkurs berichtet: "Es war interessant, die Gesichter der Anwesenden zu beobachten, von denen die meisten bei dieser Diskussion entweder sichtlich nervös waren oder versuchten, ihre wahren Gefühle vor den Kameras zu verbergen." Der Finanzminister habe nicht einmal seinen Kopf gehoben, die Zentralbankchefin sei den Blicken aller ausgewichen: "Ihr Gesichtsausdruck ließe sich mit wenigen Worten beschreiben, aber dabei würde kaum Optimismus herrschen." Selbst "eingefleischte Loyalisten" verlören die Geduld. Chefpropagandist Wladimir Solowjow hatte im Staatsfernsehen sogar einen lautstarken Wutanfall vorgespielt.

Militärblogger fürchten angesichts der zerbröselnden Landeswährung bereits um die Motivation der "Freiwilligen" an der Front, die vergleichsweise gut bezahlt sind und sich gern importierte Luxusgüter leisten: "Der 'tiefe' Wechselkurs des Rubels und damit auch die Motivation der Freiwilligen orientiert sich nicht an den Zahlen der Zentralbank, sondern an den Kosten für Benzin, doppelt verglaste Fenster und türkische Sanitäranlagen."

"Das ist sehr schlecht"

Selbst der kremlnahe Propagandist Sergej Markow ist nervös. Unter den zehn Gründen für den Rubel-Absturz nennt er auch die "hohen Kosten der Spezialoperation", die allerdings "unvermeidlich" seien. Außerdem gibt er "Probleme bei der Umrechnung" mit der chinesischen, indischen und türkischen Währung zu und räumt ein, dass für größere Außenhandelsgeschäfte immer in Euro oder Dollar bezahlt werden müsse. Das widerspricht der bisherigen Kreml-Propaganda, Russland werde die "Vorherrschaft" des Dollars brechen und sich nach China orientieren. Im Übrigen stellt Markow eine "Passivität der Zentralbank und des Finanzministeriums" fest und gibt zu, dass russische Unternehmen Devisen massenhaft im Ausland in Sicherheit bringen: "Das ist sehr schlecht."

Das russische Durchschnittseinkommen liegt nach offiziellen Angaben im Mai 2023 bei 72.851 Rubel, was nach dem neuesten Wechselkurs gerade mal 729 US-Dollar entspricht - ein Wert, der russischen Auslandsurlaubern gerade in der sommerlichen Ferienzeit desaströs anmuten muss. In der Industrie verdienen Arbeiter sogar nur umgerechnet durchschnittlich 708 US-Dollar monatlich. Der russische Mindestlohn liegt derzeit bei 166 US-Dollar.

"Nichts, auf das man sich verlassen kann"

In den russischen Netzforen ist der Rubel-Absturz das Topthema, obwohl auch die Lage an der Front alles andere als ermutigend ist. Militärblogger berichteten von schweren Niederlagen, Rückzügen und erheblichen Konflikten innerhalb der Truppe. Der "Zusammenbruch" der Währung werde eine Inflationsspirale in Gang setzen, fürchten russische Fachleute, ohne eine "Änderung der geopolitischen Tagesordnung" werde sich daran auch nichts ändern lassen. Ein Börsenhändler wird von der "Moscow Times" mit der Bemerkung zitiert, der Markt sei "verwirrt". Er nannte auch den Grund dafür: "Alle sind auf den Zufluss von Einnahmen aus dem teurer gewordenen Öl eingestellt, aber das Geld scheint irgendwo festzustecken, und unsere Regulierungsbehörden sind irgendwie gleichgültig, es gibt nichts, auf das man sich verlassen kann." Das legt den Verdacht nahe, dass viel zu viele Devisen für den Krieg ausgegeben werden müssen und in der Schattenwirtschaft versickern. Russland müsse seine - durch die Sanktionen überwiegend illegalen - Einfuhren drastisch verringern, forderte der Händler.

"Gottes Mühlen mahlen langsam"

An Verschwörungstheorien mangelt es nicht: Mancher Blogger argwöhnt, Putin lasse den Rubel jetzt ins Bodenlose fallen, um ihn rechtzeitig zu den Präsidentschaftswahlen im kommenden März wieder kosmetisch aufzuhübschen, was dann sicher als "großer Sieg" verkauft werde. Die wichtigste "psychologische Barriere" sei mit einem Kurs von mehr als 100 Rubel pro Dollar durchbrochen worden. Der russische Politologe Andrej Nikulin verwies darauf, dass die Zentralbank in solchen Krisen früher am Markt interveniert habe: "Da jetzt nichts passiert, könnte der Druck auf die Landeswährung weiter zunehmen." Der Experte ist alles andere als optimistisch: "Die russische Wirtschaft erwies sich als stärker und widerstandsfähiger als noch vor anderthalb Jahren angenommen, doch die vereinten Kräfte der Sanktionen und der eigenen 'brillanten' Politik zeigen Wirkung. Jetzt müssen wir mit einem Anstieg der Inflation rechnen. Gottes Mühlen mahlen langsam aber sicher."

Im Fachblatt "Business Gazeta" prophezeite ein Händler: "Ja, die Preise werden steigen, und sie werden dem Wachstum aller anderen Preise, die nicht einmal direkt mit Importen zusammenhängen, einen gewissen Impuls verleihen. Es ist natürlich keine Entwicklung, die sofort einsetzt. Die Inflation wird am Jahresende locker bei etwa sechs Prozent liegen." Die russische Zentralbank kündigte derweil an, sich am 15. August zu einer Sondersitzung zu treffen, vermutlich, um das Leitzinsniveau weiter zu erhöhen. Die Rede war von zehn oder gar zwölf Prozent. Das beruhigte zwar kurzfristig den Rubelkurs, befeuerte aber die Befürchtungen der Wirtschaft, die Konjunktur werde abgewürgt.

"Amerika wird uns helfen"

Russische Leser spotteten, der aktuelle Rubelkurs sei wohl Putins "größter Sieg" und sicher gehe alles genau nach Plan. Kremlhörige Spekulanten zeigten sich empört: "Mir wurde gesagt, dass es sich [beim Dollar] nur noch um Bonbonpapier handelt! Ich habe daran geglaubt und meine 125 Dollar vor einem halben Jahr verkauft! Und wie sich herausgestellt hat, ist das kein Bonbonpapier! Ich wurde betrogen!" Über die Einlassungen von Putins Berater Oreschkin hieß es: "Ja, er ist ein Genie! Ich erinnere mich allerdings, dass sein Chef das genaue Gegenteil sagte: Je schwächer der Rubel, desto mehr Rubel fließen aus Exportgeschäften in den Haushalt. Wie kann es sein, dass der Chef und sein Untergebener Gegenteiliges sagen?" Geschichtsbewusste erinnerten daran, dass Russland 1999 zahlungsunfähig war und ein US-Dollar damals zwischen 22 und 27 Rubel gekostet habe.

"Die Tatsache, dass wir zu Beginn des Jahres noch Rubel im Wert von 1.000 US-Dollar hatten, die jetzt nur noch 600 US-Dollar wert sind, zeigt, dass unsere tapfere und beliebteste Regierung zusätzlich zu allen möglichen Steuern und anderen Dingen dreist 40 % des gesamten Geldes aus uns rausgequetscht hat", lautete ein Kommentar. Ein Spötter schrieb mit Blick auf historische Erfahrungen: "Amerika wird uns wie immer helfen."

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