Bündnis zwischen russisch-orthodoxer Kirche und Kreml
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Putin am 4. November auf dem Roten Platz mit Patriarch Kyrill

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"Es stärkt ihn": Will Putin ein "rechtsradikales Archaikum"?

Razzien in Moskauer Schwulenclubs, aggressiver Nationalismus auf Theaterbühnen: Der Kreml geht vor der Präsidentschaftswahl gegen Liberale vor und setzt auf "Tradition": "Niemand sollte sich sicher fühlen, auch die scheinbar Starken sind geschwächt."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Putin sei wirklich gestorben, aber nur "symbolisch", so die interessante Analyse eines russischen Kreml-Kommentators, die vielfach zitiert wird. Tatsächlich erfinde sich der russische Präsident nämlich gerade neu als "Anti-Putin" und extremistischer Systemsprenger. Vor der Präsidentschaftswahl im kommenden März sorge Putin absichtlich für eine Verunsicherung seiner Weggefährten und mit dem aggressiven Kampf um "traditionelle Werte" für eine Art "rechtsradikales Archaikum". Die Kampagne richte sich gegen den Lebensstil in russischen Großstädten und orientiere sich an den Wertvorstellungen der Provinz, wo Putin offenbar seine treuesten Wähler vermute: "Diese Debatte kommt Putin persönlich entgegen, denn sie stärkt ihn. Aber das politische Regime wird damit nicht gestärkt, sondern balanciert vielmehr auf einem Balken der Unsicherheit. Niemand kann oder sollte sich sicher fühlen. Jeder ist in seiner Position einerseits stark, aber gleichzeitig geschwächt. Und diese Herrschaftsmethode der Schwächung wichtiger Akteure wird zum systemischen Instrument von Putins neuem Managementmodell."

"Putin ist kein Stabilitätsanker mehr"

So habe der Kreml zielsicher Gerüchte in Umlauf gesetzt, Ministerpräsident Mischustin und einige seiner Minister würden spätestens nach der Wahl ausgetauscht: "Die Diskussion über personelle Veränderungen ist für das Endergebnis selbst nicht mal sonderlich von Belang, sondern wird vielmehr im Sande verlaufen. Aber die Auseinandersetzung selbst ist bedeutsam, wichtig ist die 'Schwächung ernsthafter Mitspieler', dass sie jederzeit mit einem Loyalitätsverlust gegenüber der wichtigsten Person rechnen müssen."

Putins Wahlkampf-Strategen hielten sich im Wesentlichen an die rechtsextremen Ansichten der "Schwarzen Hundertschaften" des Zarenreichs, die seinerzeit mit antisemitischen Pogromen und gegenrevolutionärem Terror unrühmlich auf sich aufmerksam machten. Das Regime versuche, das Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten nach "Hass und Zerstörung" zu bedienen, was aber erhebliche Risiken mit sich bringe, schließlich habe auch die Geschichte des Zarenreichs mit der Erschießung der kaiserlichen Familie geendet: "Russland ist jetzt eine große Gemeinschaft, aber keine Gesellschaft. Mit anderen Worten: Putin ist kein Stabilitätsanker mehr, sondern ein 'atomarer Systemsprenger', der zwischen dem Anti-Staat und dem Apparat hin und her balanciert."

"Er selbst will oder fühlt nichts"

Der Kommentator würzt seine Analyse mit Zitaten aus dem jüngsten Roman "Die Reise nach Eleusis" des bekannten russischen Science-Fiction-Autors Wiktor Pelewin (61), wo zu lesen ist: "Verbrechen zu planen ist fast dasselbe wie sie zu begehen. Und wenn man sie von der Spitze des Throns aus begeht, handelt es sich nicht mehr um Verbrechen, sondern um Staatspolitik." Pelewin beschreibt einen Potentaten, der aus geistiger Trägheit seine Ziele von den Vorgängern übernimmt: "Er selbst will oder fühlt nichts, weil er weder Bewusstsein noch die dadurch befeuerten Emotionen hat. Er hält sich an ein paar Zitate aus der menschlichen Kulturgeschichte. Aber ein außenstehender Beobachter wird das auch nach zweihundert gemeinsamen Jahren nicht kapieren."

Pelewin schimpft auf zerstörerische Langzeitfolgen von "aggressiven imperialen Metastasen" aus russischen Klassikern und bezeichnet die Gedankenwelt der teils berühmten Altvorderen als europhoben "Komposthaufen": "Nun sorgt der Friedhofsgestank dieser Texte für Entscheidungen, die uns unerklärlich sind, auf der Grundlage der darin enthaltenen Ressentiments. Verstehen Sie, wie gefährlich das ist?" Und über den fiktiven Diktator ist zu lesen: "Warum das Rad neu erfinden? Was die bisherigen Machthaber wollten, will er auch. Nun ja, vielleicht mit etwas literarischer und stilistischer Überarbeitung."

"Negative, auch unkontrollierbare Konsequenzen"

Diese düstere Bestandsaufnahme ist kein Einzelfall, ganz im Gegenteil. In Telegram-Blogs finden sich zahlreiche Analysen, die mit einer "Massenunterdrückung je nach wirtschaftlicher Verschlechterung oder außenpolitischem Versagen" rechnen: "Wenn beides vermieden werden kann, macht es wenig Sinn, dass das Regime unduldsamer gegenüber allem wird, was nicht in die vorgegebenen Regeln passt. Insgesamt steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass eine strikte Verbotspolitik eine Vervielfachung negativer, auch unkontrollierbarer, Konsequenzen nach sich zieht. Die wahrscheinlichste Reaktion darauf wird die totale Überwachung zwischen Gesellschaft und Regierung und ein starres politisches Regime sein, das sich hermetisch isoliert."

"Vollständig mit chinesischen Batterie betrieben"

Politologe Wladimir Pastuchow, der am University College in London unterrichtet, fragt sich und seine Leser, ob es Putin schaffen könne, sein Regime über Jahrzehnte "einzufrieren" wie einst der sowjetische Parteichef Breschnew. Allerdings fehle Putin angesichts seiner Rechtswendung die ideologische Zukunftsorientierung der Kommunisten: "Der Nationalbolschewismus ist Antimodernisierung, sein Ideal ist auf die längst abgeschlossene Vergangenheit gerichtet, wie eine verbrauchte Raketenstufe. Diese ideologische Richtung stimmt nicht mit der allgemeinen Richtung des Fortschritts überein, sondern widerspricht ihm. Es ist möglich, einige Zeit gegen den Strom zu schwimmen, hierfür ist jedoch eine externe Energiequelle erforderlich. Andernfalls wird die Urgewalt der geschichtlichen Entwicklung diesen Lastkahn versenken. Das Regime wird sich nur in einem Fall behaupten können: wenn es vollständig mit chinesischen Batterien betrieben und von Peking gespeist wird. Alles scheint darauf zuzusteuern, aber es ist unklar, ob die Zeit dafür reicht."

"Sieg über staatliche Institutionen erringen"

In einem der größten Blogs, "Russland kurzgefasst" mit rund 500.000 Fans wird die eingangs erwähnte Analyse zitiert und angefügt: "Putin manipuliert seine Eliten sehr effektiv, aber jetzt hat er höchstwahrscheinlich entschieden, dass nicht die Eliten insgesamt, sondern nur die 'Auserwählten' darin und die 'schweigende Mehrheit der einfachen Leute' seine Kernunterstützer darstellen." Die Aufgabe der von Putin geschaffenen "Antisystempartei" sei es, die Selbstherrlichkeit der Führungsschicht zu erschüttern und den Apparatschiks Feuer unter dem Hintern zu machen: "Nur so kann die Antisystempartei einen endgültigen Sieg über staatliche Institutionen erringen und das postsowjetische Phänomen des Stillstands überwinden."

Zu den eingefleischten Putin-Fans gehörten die russisch-orthodoxe Kirche, ein Teil der Frontsoldaten, die Rüstungslobby und das Innenministerium, das mit dem Kampf gegen "Korruption" beschäftigt sei, um den "Willen des Präsidenten" zu vollstrecken. Nicht unwichtig sei es auch, weiter die Todesumstände von Söldnerführer Prigoschin zu "ermitteln", um dessen kremlkritische Anhängerschaft - auch die in der Elite - dauerhaft zu verunsichern.

"Taxifahrerwahn" bei Putin?

Angesichts einer Wirtschaftskrise, in der sich die Inflation so sehr beschleunigte, dass manche Russen ihre Eier inzwischen einzeln kaufen müssen, erscheint es aus Sicht des Regimes unausweichlich, dass Putin auf drastische Unterdrückungsmaßnahmen und rechtsradikales Vokabular in der Propaganda setzt. Ohne den Präsidenten namentlich zu erwähnen, diagnostizierte einer der systemkritischen russischen Polit-Blogger bei Putin einen, wie er es nannte, "Taxifahrerwahn": "Zum Größenwahn gehört auch der Glaube des Patienten an seine stark übertriebenen Fähigkeiten und Kenntnisse, bei dem der Einzelne fälschlicherweise davon überzeugt ist, dass er über echtes Expertenwissen in Geschichte, Geopolitik, Virologie und 'Seelenmassage' verfügt. Ein besonderes Beispiel dafür ist, wenn sich ein Patient gleichzeitig als Arzt und Pfleger betrachtet." Im Übrigen gehöre es zu den Kennzeichen jedes Diktators, dass er seinen eigenen Untergang mit dem des Landes gleichsetze.

Hat sich die "Gärung" verselbständigt?

Politologin Tatjana Stanowaja schreibt: "Hier besteht keine Notwendigkeit, nach einer sorgfältig vorbereiteten Strategie zu suchen, die auf Betreiben Putins und seiner fiktiven Regierung entwickelt wurde. Die Wahlen sind in diesem Fall auch nur ein Faktor, nicht der eigentliche Grund. Die wahre Ursache ist tatsächlich schlimmer als jeder repressive, aber pragmatische Plan. Es ist eine Situation entstanden, in der es die äußeren Umstände und die lautstarke Forderung gibt, alles voranzutreiben, was auf die politische Einbetonierung der Ideologie des Regimes abzielt." Das sei keineswegs "von oben" gesteuert, sondern ein Prozess, eine "Gärung", die sich längst verselbständigt habe. Es sei vielmehr "überraschend", dass Putin sich dieser Entwicklung zur "Selbstverknöcherung" beuge, denn sie könne ihn und seine Getreuen hinwegfegen.

Dagegen hält Politologe Ilja Graschtschenkow Putins rechtsextreme Wende für eher kosmetisch: "Dieser Ansatz kann als jesuitisch bezeichnet werden, da er [den Russen] einerseits keine wirklichen Einschränkungen auferlegt (machen Sie, was Sie wollen, halten Sie sich nur aus der Politik raus) und andererseits nach und nach die öffentliche Meinung beeinflusst, wo sich eine neue Einstellung über das, was gut und was schlecht ist, verbreitet." Putin wende somit "Softpower" an, um in der Gesellschaft neue Vorstellungen von missliebigem Verhalten" mehrheitsfähig zu machen.

"Jetzt änderten sich Tagesordnung und Erwartungen"

Unmittelbarer Anlass für solche gesellschaftskritischen Bestandsaufnahmen ist der vom Regime lautstark geführte Kampf gegen Homosexuelle und alle "nicht-traditionellen Lebensweisen". Ihre Organisationen wurden vom Obersten Gerichtshof auf Antrag des russischen Innenministeriums als "extremistisch" eingestuft, Moskauer Schwulenclubs von der Polizei gestürmt. Gleichzeitig tauschte Putin den Intendanten des Moskauer Bolschoi-Theaters aus. Es wird jetzt quasi nebenberuflich von seinem Vertrauten Valery Gergiev geleitet, der auch das St. Petersburger Mariinski-Theater mit seinen zahlreichen Außenstellen managt. Der bisherige Bolschoi-Chef Wladimir Urin galt als offener Kriegsgegner und sympathisierte mit dem westlichen Regietheater.

Dazu hieß es in einem Kommentar der regierungsnahen "Iswestija" unter der Überschrift "Was Urin falsch gemacht hat", der alte Intendant habe sich an europäischen Häusern orientiert und Partnerschaften mit ihnen vorangetrieben, was vor dem Krieg "Mainstream" gewesen sei: "Jetzt änderten sich die Tagesordnung und die Erwartungen – der moderne Zuschauer, Liebhaber von Oper und Ballett, möchte traditionelle russische Kunst. Es sollte nicht archaisch, mottenkugelhaft, museal oder so ähnlich sein. Es sollte modern anmuten, aber mit Respekt vor der Tradition und den Meisterwerken, die in der russischen Musikkultur geschaffen wurden."

"Klassisches Werk in einen Zirkus verwandelt"

Mit dem Regietheater westlicher Prägung soll Schluss sein. Speziell der in Deutschland viel beschäftigte Regisseur Dmitri Tcherniakov wird für seine Inszenierung von Nikolai Rimski-Korsakows patriotischer Historien-Oper "Sadko" angegriffen: "Ein klassisches russisches Werk wurde in einen Zirkus verwandelt." Der neue, viel beschäftigte Bolschoi-Chef Gergiev kündigte denn auch gleich an, als erstes eine Neuproduktion von Modest Mussorgskys opulentem Kreml-Drama "Chowantschina" auf den Spielplan zu setzen, ein Werk, das in der Kindheit von Zar Peter dem Großen spielt.

Im liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant" wurde Gergiev ironisch als "staatlicher akademischer Großdirigent" bezeichnet, selbst für ein Arbeitstier wie ihn sei die Leitung von zwei Großinstitutionen mit knapp 8.000 Mitarbeitern wohl etwas zu viel. In der im Exil erscheinenden "Novaya Gazeta Europe" werden russische Theater mit "feudalen Besitztümern" gleichgesetzt: Gergievs Aufstieg sei mit der "Säuberung des kulturellen Umfelds nach Kriegsbeginn" und "verschärften Loyalitätsanforderungen" des Kremls zu erklären. Im Übrigen gehöre das Stammpublikum im Bolschoi zur russischen Elite und setze sich aus den Ehefrauen der Oligarchen, Spitzenbeamten und hochrangigen Diplomaten zusammen: "Gergiev versteht diese Aufgabe und schafft es, genau die Art von Kunst zu machen, die bei dieser Zielgruppe gefragt ist. Allein die Art und Weise, wie Gergievs Ernennung blitzschnell erfolgte, wenn auch aufgrund einer Indiskretion etwas verzögert, gleicht einer echten Geheimdienstoperation." Es sei offen, ob ein Wechsel der Bolschoi-Führung jemals in "zivilisierter Weise" erfolgen werde.

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