Porträt des Kreml-Politikers
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Stellvertretender Außenminister: Sergej Rjabkow

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"Irgendwo falsch abgebogen": Russland fürchtet "innere Unruhen"

Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow fürchtet um die Stabilität der russischen Gesellschaft: Die USA würden Proteste organisieren und einen "Machtwechsel" anstreben. Die Inflation und Mobilisierungsängste befeuern die Debatte.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es sei bemerkenswert, dass die "Regierung in der Person von Sergej Rjabkow plötzlich Anzeichen innerrussischer Unruhen" wahrnehme, so Beobachter. Tatsächlich hatte der stellvertretende Außenminister, der als Abrüstungsexperte gilt, gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur TASS davor gewarnt, die USA strebten einen Machtwechsel in Russland an und konzentrierten sich mittlerweile auf die "Organisation" von Protesten im Land. Angesichts einer verschärften Konfrontation zwischen Moskau und Washington wollte Rjabkow den Abbruch der diplomatischen Beziehungen nicht ausschließen, die ohnehin bereits "äußerst ausgedünnt" seien.

Auch Präsident Putin gab sich in einer Rede vor dem Volksrat der russischen Welt alarmiert und wiederholte die Propaganda-Parole, Russland sei von außen und innen bedroht. Jeder Versuch, die russische Gesellschaft zu spalten, sei Verrat. Die Brandherde, die die Sowjetunion hinterlassen habe, schwelten nicht nur, sie flackerten immer wieder auf. Mehr an seine eigenen Landsleute als an das Ausland gerichtet sagte Putin: "Der Westen braucht im Prinzip kein so großes und multinationales Land wie Russland. Tatsächlich wollen sie Russland zerstückeln und ausplündern. Wenn Sie es nicht mit Gewalt schaffen, können sie zumindest Verwirrung stiften. Ich möchte betonen: Wir betrachten jede Einmischung von außen, jede Provokation mit dem Ziel, interethnische oder interreligiöse Konflikte zu schüren, als aggressive Handlung gegen unser Land, als einen Versuch, Russland erneut mit Terrorismus und Extremismus zu zersetzen, als Mittel, um uns zu bekämpfen, und wir werden entsprechend reagieren."

"Ideologie wird noch stärker abgelehnt"

Tatsächlich hat der Kreml Grund zur Beunruhigung: Selbst regierungsnahe Umfrageinstitute melden zunehmende "soziale Besorgnis" im Land, angetrieben von steigenden Lebensmittelpreisen, Problemen im Gesundheits- und Wohnungswesen, aber auch durch Umweltskandale. Letztere könnten übrigens "immer brisanter" werden, so Politologe Ilja Graschtschenkow mit einer originellen Begründung: Weil die Zensurbehörden jede Diskussion über den Krieg im Keim erstickten, seien Umweltprobleme eines der wenigen "erlaubten" Ersatz-Themen und rückten daher "immer mehr in den Vordergrund".

Dabei warnen die Meinungsforscher die Regierung vor noch mehr Propaganda: "Eine starke Betonung der Ideologisierung wird höchstwahrscheinlich zum gegenteiligen Ergebnis führen und von der unpolitischen Gesellschaft noch stärker abgelehnt." Die meisten Russen sorgten sich um ihre finanzielle Lage und die eigene Familie, alles andere trete in den Hintergrund und habe keinerlei emotionale Bedeutung. Der Krieg sei zwar eine Ausnahme, doch dessen Wahrnehmung sei im letzten Jahr rückläufig.

"Rechnerische Reserve" bei Putins Beliebtheitswerten

Die offiziellen Beliebtheitswerte Putins sind neuerdings minimal gesunken, bemerkte die "Nesawissimaja Gaseta", die das fast schon ironisch kommentierte: Vermutlich hätten die russischen Soziologen den Auftrag bekommen, die Zahlen etwas nach unten zu korrigieren, damit Anfang nächsten Jahres, kurz vor der Präsidentschaftswahl im März, noch "Luft nach oben" sei: "Offensichtlich sollte eine Erklärung darin gesucht werden, dass Meinungsumfragen dieser führenden Agenturen traditionell eher Instrumente sind, die die öffentliche Meinung beeinflussen sollen statt sie zu messen. In den vergangenen Wochen begannen die Werte des Präsidenten so schnell zu steigen, dass die Frage aufkam: Was werden die Soziologen machen, wenn der Wahlkampf richtig beginnt? Deshalb hat man sich nun offenbar dazu entschieden, eine gewisse rechnerische Reserve für den bevorstehenden Start in den Wahlkampf zu schaffen."

Soldatenmütter: "Präsident hat Sinn für Humor"

Derweil machen die Angehörigen der mobilisierten Soldaten immer mehr Druck: In einem Appell an die russische Öffentlichkeit kritisierten Ehefrauen und Mütter erstmals ziemlich unverblümt Präsident Putin persönlich: "Es gibt fast keine Hoffnung mehr. Keiner von uns fühlt sich noch sicher. Viele haben keine Zukunft mehr." Putin habe einst versprochen, dass keine Reservisten einberufen würden und sich nicht daran gehalten: "Viele werden nie zurückkehren. Die Mobilisierung erwies sich als schrecklicher Fehler. Wir wurden für unser gesetzestreues Verhalten bestraft", heißt es im Telegram-Blog der Frauen mit inzwischen knapp 19.000 Followern. Der Kreml versuche die Frauen mit Geld und Privilegien zum Schweigen zu bringen: "Ein Land besteht in erster Linie aus Menschen und nicht aus irgendwelchen abstrakten Interessen, hinter denen sich Beamte verstecken."

Alles, was derzeit passiere sei "absurd", schimpfen die Initiatorinnen: "Der Präsident erklärte 2024 zum Jahr der Familie. Ironisch, wenn man bedenkt, dass Frauen um ihre Männer weinen, Kinder ohne Väter aufwachsen und viele bereits Waisen sind. Unser Präsident hat immer noch Sinn für Humor! Anscheinend wird unser Vaterland ausschließlich für die Elite der Gesellschaft verteidigt: Verrückte, Alkoholiker, Migranten, exorbitant reiche Politiker und ihre Kinder (warum sind die übrigens nicht in den Schützengräben?) Negative Auslese in Aktion. Wir rühmen die russische Weltsicht, aber was ist daraus geworden? Anscheinend sind wir irgendwo falsch abgebogen. Frage: Gibt es noch eine Chance abzuspringen?" Gesellschaftliche Stabilität könne es nur geben, wenn die unbefristete Mobilisierung beendet werde. Dazu wurde eine Online-Petition gestartet.

Sterbeurkunde statt Fronteinsatz

An dramatischen Anekdoten über besorgte Angehörige und entnervte Männer herrscht kein Mangel. So soll eine Ehefrau in Ulan-Ude mit Selbstmord gedroht haben, falls ihr mobilisierter Mann nach seinem Heimaturlaub an die Front zurückkehre. Daraufhin beschaffte sich der Soldat eine gefälschte Sterbeurkunde, meldete ein regionales Newsportal. Der Schwindel flog auf, der Mann wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. In Omsk machten fünf junge Mobilisierte Schlagzeilen, die aus ihrer Ausbildungseinheit flohen und seit über einem Monat als "vermisst" gelten. Allein im ersten Halbjahr des laufenden Jahres sollen rund 2.000 Strafverfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet worden sein. Weniger als die Hälfte der Betroffenen wurde nach Angaben des Exil-Portal Mediazona zu Haftstrafen verurteilt, der Rest kam auf Bewährung "frei", nämlich zurück an die Front.

"Regierung ist völlig verrückt geworden"

Im russischen Netz hieß es ironisch, bei verbotenen Protestaktionen von Angehörigen der Soldaten rollten inzwischen mehr Mannschaftswagen vor als "beim Geburtstag von [Oppositionspolitiker] Alexej Nawalny". Der Kreml versuche offenbar, die aufgebrachten Frauen zu beruhigen bzw. sie in "gute und schlechte" Russinnen aufzuteilen. Wer nicht nachgebe, werde zum Verräter erklärt. "Von den 30 Städten und Regionen, in denen sich Angehörige der Mobilisierten zusammenschlossen, wurden nur in sieben Orten Anträge für Protest-Kundgebungen eingereicht, fünf davon wurden abgelehnt, der Status der restlichen zwei ist unbekannt", war in einem Blog zu lesen. Begründet hätten die Behörden die jeweiligen Ablehnungen mit Infektionsgefahr.

Spöttisch wird die Strategie des Kremls kommentiert, die Soldaten sollten ihre Frauen anrufen und sich "Einmischung in Männerangelegenheiten" verbeten. Auch die Propaganda-Behauptung, westliche Geheimdienste steckten hinter den Unruhen sei wenig wirksam: "Unsere Regierung zeichnete sich nie durch Intelligenz und geistige Beweglichkeit aus, und in letzter Zeit ist sie völlig verrückt geworden, ausgerechnet in Bezug auf Maßnahmen gegen die Frauenbewegung, sie wird immer das Schlimmste wählen."

"Unmöglich, so weiterzumachen"

Wie nervös die Behörden inzwischen sind, wird aus der Meldung deutlich, dass der russische Generalstaatsanwalt Igor Krasnow die Berichterstattung über teures Brennholz untersuchen will. Gleichzeitig drängte er darauf, Veteranen und Angehörige von Soldaten bevorzugt mit kostengünstigem Material zu beliefern, um ihnen ein "angenehmes Leben" zu gewährleisten. "Wenn die Generalstaatsanwaltschaft an diesem Thema interessiert ist, dann ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass selbst die Aufsichtsbehörden zu dem Schluss gekommen sind, dass es unmöglich ist, so weiterzumachen, und dass es an der Zeit ist, etwas zu entscheiden", so einer der meist zitierten Blogger.

Während der Kreml durch den verbreiteten Unmut über die Wirtschaftslage zunehmend unter Druck gerät, zetern die "Ultrapatrioten" von rechts gegen jede Art von Verständigungsfrieden. Das, was Russland mit dem Krieg bisher erreicht habe, sei "für uns nicht von Vorteil" und "sehr wenig gewinnbringend", urteilt einer der populärsten Kriegsblogger mit 300.000 Followern: "Wenn wir unter den heutigen Bedingungen Frieden schließen, dann ist das eine ständige Bedrohung der Grenzregionen. Auch der Landkorridor zur Krim wäre ständig in Gefahr."

"Keines der strategischen Probleme gelöst"

Auch Blogger Boris Roschin (800.000 Fans) warnte vor einem Waffenstillstand. Die Hoffnung auf Verhandlungen mit den USA sei "illusorisch", Russland müsse sich wohl oder übel auf einen langfristigen Krieg einrichten: "Um die bereits erlittenen menschlichen, materiellen und wirtschaftlichen Verluste zu rechtfertigen, braucht Russland mehr als nur einen Teil von zwei weiteren Regionen mit einem nicht anerkannten internationalen Status, was keines der strategischen Probleme löst, die zum Beginn der Spezialoperation geführt haben." Roschin ängstigt sich vor "Fehleinschätzungen" im Kreml, der zu nachgiebig sein könnte, und beruhigte Skeptiker, die Armee habe "nach und nach aus ihren Fehlern gelernt" und das Geld für einen langen Krieg sei vorhanden. Genau das erscheint zunehmend fraglich.

Politologe Andrej Schalimow war mutig genug, angesichts der angespannten innenpolitischen Lage Prognosen zu wagen, und zwar gestaffelt nach Wahrscheinlichkeiten und politischen Temperaturen: Er glaubt, dass der Kreml zu fünfzig Prozent im Wahlkampf auf die "Besänftigung" der Wählerschaft und innenpolitische Themen setzen werde, um unmittelbar danach "eine Reihe unpopulärer Entscheidungen" durchzudrücken ("warmer Winter, kalter Frühling"). Eine sofortige harte Gangart, etwa eine blutige Winteroffensive an der Front, die Einführung des Kriegsrechts und die Mobilmachung der gesamten Wirtschaft sei zwar "beängstigend", aber nur zu 25 Prozent zu erwarten ("kalter Winter, kalter Frühling"). Noch unwahrscheinlicher, nämlich nur zu 15 Prozent zu erwarten sei ein Putin-Nachfolger, der auf eine Charmeoffensive setzen werde ("warmer Winter, warmer Frühling"). Ansonsten könnten durchaus auch "unerwartete Dinge" passieren: "Hoffentlich vorteilhafte."

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