Schwarz-Weiß-Bild einer sechsköpfigen Familie um die Jahrhundertwende.
Bildrechte: VINCA FILM

Die Familie Giacometti im Jahr 1911. Hinten: Alberto, Bruno, Vater Giovanni und Mutter Annetta (von links). Vorne: Diego und Ottilia.

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"Die Giacomettis": Sehenswerte Doku über eine Künstlerfamilie

Woher kam Alberto Giacometti, den man für seine wundersam dünnen Figuren kennt? Aus einem tiefen Schweizer Bergtal – und einer höchst kreativen Familie. Regisseurin Susanna Fanzun hat sich auf Spurensuche in einen ganz besonderen Kosmos begeben.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Es gibt eine schöne Anekdote zu dem schroffen Schweizer Bergtal südwestlich von St. Moritz: Nachdem der Herrgott die Welt erschaffen hatte, betrachtete er das Bergell. Als er herabschaute, sah er das enge Tal. Es war Winter, das Land zwischen den Bergen nur ein schattiger, dunkler Streifen. Er fand, dass die Bergeller ein wenig Pech hatten mit ihrem Lebensort. Deshalb wollte er ihnen noch etwas schenken: die Familie Giacometti.

Geschichte einer Künstlerfamilie

Alberto, der berühmteste Künstler des Giacometti-Clans, steht im Film von Susanna Fanzun keineswegs im Vordergrund. Klar, er kommt ausführlich vor mit seinen dünnen, wundersam feingliedrigen Skulpturen, doch es geht um die ganze außergewöhnliche Künstlerdynastie. Von Vater Giovanni, einem Impressionisten der ersten Stunde, bis eben zu den begabten Kindern Alberto, Diego, Ottilia und Bruno waren sie alle mit bemerkenswertem Talent gesegnet. Diego entwarf Möbel und unterstützte seinen Bruder. Ottilia arbeitete als Weberin, Bruno als Architekt.

Und dann ist da noch Annetta Giacometti, die Ehefrau und Mutter – eine die Familienschicksale bis ins hohe Alter bestimmende, stille Regentin, die das traditionelle Zusammenleben der Bewohner in dem engen Bergtal eher unkonventionell interpretierte, so offen und freiheitsliebend wie solidarisch. Susanna Fanzun hat für ihren Film Freunde, Bekannte und ehemalige Nachbarn der Giacomettis getroffen und gesprochen, etwa Sina Dolfi, die nebenan wohnte. Sie war die kleine Cousine der Giacometti-Kinder. "Ich ging wirklich gerne zu ihnen. Man spürte diese ganz besondere Atmosphäre", sagt sie.

Im Video: Der Trailer von "Die Giacomettis"

Das abgelegene Bergtal – und die weite Welt

In einem angenehm ruhigen Rhythmus erzählt der Film "Die Giacomettis" von einem idyllischen Künstlerleben in schroffer Natur, spart Konflikte und schwere Zeiten nicht aus - Krisen, Weltkriege, Armut - und berichtet auch von den Ausflügen in die damals noch weite Welt: Vater Giovanni Giacometti ging 1886 nach München und studierte dort an der Akademie, wechselte dann nach Paris, lebte meist von der Hand in den Mund, bevor er ins Bergell zurückkehrte und zusammen mit Annetta die Familie gründete.

Der Film kombiniert die meisterhaften, oft an naive Malerei erinnernden und dann wieder fröhlich majestätischen Gemälde von Giovanni mit persönlichen Briefen, Zeitzeugenberichten, etwa von der noch lebenden Haushälterin Maria Fasciati, und zeigt die beeindrucken Skizzen, die der junge Alberto vom Familienleben in dem kleinen Dorf Stampa fertigte: die Geschwister schlafend im Bett, ein in die Tiefe des Herzens blickendes Porträt der Mutter, der Vater vor der Staffelei.

Inspirierender Dokumentarfilm

Susanna Fanzun paart das mit Aufnahmen der alpinen Landschaft heute – und macht deutlich, wie die karge, lebensfeindliche Natur künstlerische Entwicklungen mitgeprägt hat. Viel erfährt man in diesem Film über familiäre Dynamiken und die Weltgeschichte, über Kunst als Ausdruck oder auch als Ventil von nicht immer einfachen Lebensumständen. Das gelingt ohne aufdringliche Psychologisierungen auf eine schöne Art und Weise vielgestaltig und assoziativ. Nach 105 Kinominuten bleibt das inspirierende Gefühl, eine außerordentliche Künstlerfamilie besucht und kennengelernt zu haben.

"Die Giacomettis" - Dokumentarfilm, Schweiz 2022. Regie: Susanna Fanzun. Eine Stunde und 42 Minuten.

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