Greiser, bärtiger Schriftsteller sitzt lächelnd an einem Tisch, rechts steht Präsident Putin, der ihm grinsend die Hand schüttelt.
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Alles gut? Russlands Präsident Vladimir Putin schüttelt Alexander Solschenizyn 2007 in Moskau die Hand und überreicht ihm den Staatspreis.

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Das Prinzip Straflager: 50 Jahre Solschenyzins "Archipel Gulag"

Wer Kritik übt, kommt ins Straflager: Was das in der Sowjetunion bedeutete, konnte die Welt 1973 in Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" nachlesen. Damals war das Buch ein Schock, in Putins Russland heute ist Haft erneut Mittel der Repression.

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Das Buch schlug ein wie eine Bombe. Es öffnete vor allem in französischen Intellektuellenkreisen all jenen die Augen, die das sowjetische Lagersystem nicht wahrhaben wollten, nichts von der brutalen Versklavung der Menschen im Namen des Sozialismus wissen wollten. 1973 kam es zu einer Art Solschenizyn-Schock. Der Autor hatte mit dem "Archipel Gulag" eine dokumentarisch-literarische Totenmesse für die Opfer des Stalinismus vorgelegt. Im Vorwort beteuerte er: "In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen noch erfundene Ereignisse. Menschen und Schauplätze tragen ihre eigenen Namen […], es war alles genau wie beschrieben."

Ein lange verstecktes Manuskript

Auf der Grundlage der Erinnerungen, Erzählungen und Briefe von 227 ehemaligen Gulag-Häftlingen hat Solschenizyn eine Geschichte des stalinistischen Terrors geschrieben. Das Manuskript für die beiden Bände des Archipel Gulag hatte er über viele Jahre sorgsam versteckt, jedes abgeschlossene Kapitel platzierte er an einem anderen Ort bei unterschiedlichen Freunden und Bekannten.

Seit Mitte der 1960er-Jahre stand der Autor unter ständiger Beobachtung des KGB, er wusste, was eine Veröffentlichung nach sich ziehen würde. Als der sowjetische Geheimdienst jedoch im August 1973 Teile seiner Protokolle fand, gab es keinen Grund mehr zur Geheimhaltung. In einem vielstimmigen Chor dokumentiert der selbst betroffene Schriftsteller das generationenübergreifende Räderwerk des Roten Terrors: "Nicht jedem ist es wie Wanja Lewitski gegeben, mit vierzehn bereits zu der Einsicht zu gelangen: 'Jeder ehrliche Mensch kommt ins Gefängnis. Jetzt sitzt Papa. Wenn ich groß bin – holen sie mich. (Sie verhafteten ihn mit dreiundzwanzig.)'" Eine Tradition der Repression, gegen die Solschenizyn allein sein Wort setzt in der festen Überzeugung, "dass es am Ende den Beton durchbricht."

System der Gewalt

Der russische Repressionsapparat blieb jedoch bis auf ein kurzes Intermezzo unerschüttert und nimmt gerade wieder kräftig Fahrt auf. Intellektuelle, Wissenschaftler, Journalisten und Künstler werden reihenweise zu langen Haftstrafen verurteilt, gerade erst erfuhr die Öffentlichkeit nach wochenlanger Ungewissheit über seinen Verbleib, dass Alexej Nawalny in eine Strafkolonie in der russischen Polarregion verlegt worden ist. Unterdessen kommen Schwerverbrecher frei, damit sie im Krieg gegen die Ukraine kämpfen. In der Auseinandersetzung mit seiner Gewalthistorie hat Russland versagt.

Auch Solschenizyn hat aus dem Inferno am Ende eine Tragödie gemacht. Er bewahrt sich trotz aller Radikalität den sonntäglichen Sinn: Das Leiden erhebt den Menschen und alle Qualen führen ja doch nur zurück zum ewigen Dostojewskij-Dunkel des Lebens. Der "Archipel Gulag" sei – so heißt es im Untertitel – der "Versuch einer künstlerischen Bewältigung".

Die Deutungen des Lagers

Ganz anders dagegen der Schriftsteller Warlam Schalamow. 17 Jahre war er im Lager, wo er zu der Überzeugung kam, dass die Vernichtung des Menschen durch den Staat jede Hoffnung auf Rettung und Erlösung auslösche. Seine Prosa hat er denn auch anders als Solschenizyn ohne jeden Manierismus direkt aus dem Gulag und der Zerstörung abgeleitet. Der Mensch wird bei Schalamow durch Schwerstarbeit bei Minus 50 Grad nicht erhaben, sondern schlicht kaputt gemacht.

Russland entschied sich aber nicht für den Zivilisationsbruch, sondern für die Passion. Auf den Lehrplan kam Solschenizyn, nicht Schalamow. Und jetzt soll auch Solschenizyn wieder verschwinden. Sein "Archipel Gulag" demütige Russland, kritisierten die Initiatoren des Verbotsantrags. Es ist die Zeit der Z-Literatur und da kommt Stalin wieder zu allen Ehren. In seinem aktuellen Roman "Der Große Gopnik" – "Gopnik" bedeutet "Hinterhofkrimineller", gemeint ist Putin – schreibt Viktor Jerofejew hellsichtig: "Dem stalinschen Vorbild ist der Große Gopnik gefolgt. Auch er hat den russischen Raum als Märchen gespürt, die Feinde dieses Raumes ausgemacht und sich angeschickt, jene russischen Gebiete einzusammeln, die beim Zerfall der UdSSR verloren gegangen sind. [...] Er ist sich sicher, dass er absolut recht hat, wenn er die russische Märchenwelt vor den schlimmen Hexenmeistern und Dämonen Europas und Amerikas rettet. Vielleicht steht zum ersten Mal, seit Russland existiert, ein Mann an der Spitze des Landes, der den Schlüssel zur Psychologie des Volkes gefunden hat."

Die Vergangenheit ist in Russland die Zukunft.

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