Ukrainische Einheiten feuern am 10. Juli 2023 einen Mehrfachraketenwerfer bei Bachmut in Richtung russischer Stellungen ab
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10.07.2023: Bachmut, Ukraine – ukrainische Einheiten feuern einen Mehrfachraketenwerfer in Richtung russischer Stellungen ab.

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Ukrainische Gegenoffensive: Stand, Fortschritte und Probleme

Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius nimmt die Debatte über die ukrainische Gegenoffensive den zentralen Raum ein. Wie weit haben die Ukrainer Russlands Streitkräfte bereits zurückdrängen können? Auf welche Widerstände stoßen sie? Kurz: Wie ist die Lage?

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte schon frühzeitig vor zu überzogenen Erwartungen an rasche Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive gewarnt. Nur wenige Wochen nach Beginn der Offensive am 4. Juni gaben er und seine Armeeführung gegenüber westlichen Medien wiederholt die Devise aus: Ja, auch sie hätten sich einen schnelleren Verlauf gewünscht. Aber das Ganze sei kein Hollywood-Film, sondern es gehe um das Leben jedes einzelnen ukrainischen Verteidigers.

Auch machte Selenskyj keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, dass Russland seit vergangenem Spätherbst nahezu alle Zeit der Welt gehabt habe, um sich entlang der Frontlinien einzugraben, um äußerst schwer zu überwindende Verteidigungsstellungen zu errichten. Da sei kostbare Zeit verschwendet worden, während Kiew auf die Lieferung westlicher Waffensysteme habe warten müssen. Jetzt, auf dem Nato-Gipfel, analysieren die Staats- und Regierungschefs der Allianz gemeinsam mit Präsident Selenskyj den bisherigen Verlauf der Gegenoffensive.

Keine Luftwaffe - aber mehrere Stoßrichtungen

Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen im Wesentlichen in diese Stoßrichtungen: Im südlichen Abschnitt des Oblasts Luhansk um Bachmut; im nördlichen Abschnitt des Oblasts Donezk in der Nähe der Städte Awdijiwka und Marjinka; an mehreren Stellen entlang des südlichen Abschnitts des Oblasts Saporischschja; und schließlich im Oblast Cherson, entlang der Flussverlaufs des Dnipro.

Das militärische Kalkül aus Sicht Kiews: Die Ukraine verfügt, im Gegensatz zu Russland, nicht über eine nennenswerte Luftwaffe. Ohne die Luftunterstützung können die Bodenverbände nur sehr langsam durch die dichten, mitunter mehrere Dutzend Kilometer tiefen Verteidigungsstellungen der russischen Invasoren vorrücken. Deshalb verstärkt die ukrainische Armee an mehreren Frontabschnitten gleichzeitig den Druck auf die gegnerischen Verbände. Erst wenn für die ukrainische Armeeführung eine erfolgversprechende Stelle entlang des Frontverlaufs erkennbar ist, der sich für den massiven Einsatz der großen Kampfverbände eignet, dürfte sich der wesentliche Teil der Gegenoffensive entfalten.

Zugleich intensiviert die Ukraine ihre Angriffe auf wichtige russische Militärlogistik, wie Treibstofflager, Munitionsdepots und Verkehrsverbindungen. Dazu nutzen die ukrainischen Einheiten im wesentlichen Artilleriesysteme westlicher Partnerländer mit größerer Reichweite. Die Ankündigung von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron auf dem Nato-Gipfel in Vilnius, Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 250 Kilometern zu liefern, unterstützt genau diese Vorgehensweise: Möglichst viel russisches Angriffspotential zu zerstören, bevor es an der Front zum Einsatz kommen kann.

Ukraine schafft in fünf Wochen, wofür Russland ein Jahr brauchte

Seit Beginn der Gegenoffensive am 4. Juni haben die ukrainischen Streitkräfte nach Angaben des amerikanischen "Institute for the Study of War" (ISW) rund 253 Quadratkilometer ihres von russischen Truppen besetzten Staatsgebiets zurückerobern können. Dies entspreche nahezu derjenigen Fläche, die Russland entlang des gesamten Frontabschnitts in diesem Jahr habe besetzen können. Umgekehrt ausgedrückt: Binnen fünf Wochen hat die Ukraine fast die gleichen Geländegewinne erzielt wie Russlands Streitkräfte in über einem halben Jahr.

Vor allem im Raum um das von russischen Einheiten zur völligen Ruinenstadt zerstörten Bachmut hätten die ukrainischen Verbände in den vergangenen sieben Tagen vier Quadratkilometer zurückerobern können. Ebenfalls sei die ukrainische Armee bei ihren Vorstößen in Richtung der Städte Berdjansk und Melitopol, die noch Dutzende Kilometer im russischen besetzten Gebiet liegen, insgesamt knapp neun Kilometer vorgerückt.

Wie hoch die eigenen Verluste bei diesen äußerst heftigen Kämpfen sind, bei denen sich die ukrainischen Soldaten unablässig Artilleriebeschuss und Luftangriffen bei ihrem Vordringen durch dichte Minenfelder ausgesetzt sehen, lässt sich jedoch kaum beantworten. Seit dem russischen Überfall vor bald 17 Monaten gehört es zu den aus Sicht der Ukraine nachvollziehbaren Grundsätzen, dem Feind keinerlei Informationen über die Anzahl der getöteten und verletzten Soldaten preiszugeben.

Chronologen des Kriegs

Das ISW gilt als einer der präzisesten Chronologen des Kriegsverlaufs seit dem russischen Angriff am 24. Februar 2022. Die täglichen Berichte des Think Tanks basieren unter anderem auf der Auswertung von Satellitenbildern, Geodaten sowie auf zahlreichen ukrainischen und russischen Medien sowie Aussagen offizieller Stellen.

Die täglich aktualisierten Karten des ISW zu den jeweiligen Frontabschnitten gehören zu den verlässlichsten Angaben über Geländegewinne und Geländeverluste. Jedes Zitat und jede Angabe wird stets mit der entsprechenden Fußnote belegt.

Karte: Die militärische Lage in der Ukraine

Im Video - Politikwissenschaftlerin Matlé zum NATO-Gipfel in Vilnius:

Politikwissenschaftlerin Matlé zum NATO-Gipfel in Vilnius
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Politikwissenschaftlerin Matlé zum NATO-Gipfel in Vilnius

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