EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Woldymyr Selenskyj am 4.11.2023 in Kiew
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Ukraine: Im Eiltempo Richtung EU? Eher nicht…

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EU öffnet Tor für Ukraine-Beitritt – was nun auf Europa zukommt

Die EU-Kommission empfiehlt den Mitgliedsstaaten, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau aufzunehmen. Ein starkes politisches Signal, das aber viele Fragen aufwirft. Außerdem will Deutschland Aufnahmen in die EU erleichtern.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Seit Monaten stand fest, dass Brüssel den Fortschrittsbericht zum möglichen Start von EU-Beitrittsverhandlungen mit mehreren Staaten vorlegen würde. Viele innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft haben gespannt darauf gewartet. Aus Sicht Kiews hätten Zeitpunkt und Ergebnis nicht besser ausfallen können.

Nachdem die Ukraine zuerst im Rekordtempo Beitrittskandidat wurde, empfiehlt die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten jetzt, Beitrittsverhandlungen mit dem Land aufzunehmen. Damit erfüllt Brüssel eine zentrale Forderung des ukrainischen Präsidenten, die Wolodymyr Selenskyj immer wieder bei EU-Gipfeln erhoben hat. Dass dieses starke politische Signal der EU gerade jetzt kommt, ist für ihn sehr wichtig.

Seit dem Hamas-Überfall auf Israel warnt Selenskyj besonders nachdrücklich davor, wegen des Nahost-Konflikts in der Unterstützung seines Landes nachzulassen. Der Fortschrittsbericht beweist, dass die Ukraine für die EU keineswegs in den Hintergrund gerückt ist.

EU fordert Reformen in sieben Bereichen

Die Kommission hat als Voraussetzung für die weitere Annäherung Reformfortschritte in sieben Bereichen verlangt. Dabei geht es unter anderem um den Kampf gegen Korruption. Da hat sich die Lage nach Einschätzung von Fachleuten und EU-Abgeordneten, die sich vor Ort ein Bild machen konnten, etwas gebessert.

Im Korruptions-Wahrnehmungs-Index von Transparency International liegt die Ukraine aber immer noch auf Rang 116 von 180 Ländern. In Europa schneidet nur Russland schlechter ab. Außerdem fordert Brüssel, dass Kiew den Einfluss von Oligarchen einschränkt, die Justiz reformiert und nationale Minderheiten besser schützt.

Einstimmiger Gipfelbeschluss nötig

Die Kommission kommt zwar zu dem Ergebnis, dass die ukrainische Regierung diese Auflagen noch nicht ganz umgesetzt hat. Sie geht aber davon aus, dass Kiew das bis zum Frühjahr schafft. Das soll im März nochmals überprüft werden. Deshalb empfiehlt die Kommission, dass die Staats- und Regierungschefs und –chefinnen beim Gipfel Mitte Dezember grundsätzlich beschließen, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.

Dafür braucht es eine einstimmige Entscheidung der 27 Staaten. Ob der ungarische Regierungschef Viktor Orban mitzieht, ist offen. Einem 50-Milliarden-Euro-schweren Hilfspaket für die Ukraine verweigert er derzeit seine Zustimmung. Er hofft so, eingefrorene Mittel für sein Land freizubekommen.

Vieles bleibt offen

Es bleibt also auch nach der Brüsseler Empfehlung vieles offen: Dass es Jahre dauern kann, bis Beitrittsverhandlungen wirklich starten, haben Kandidatenländer des Westbalkan leidvoll erfahren. Auch einigen von ihnen wurden im Kommissionsbericht Fortschritte attestiert.

Im Fall der Ukraine bleibt außerdem die Frage, ob ein Land im Kriegszustand überhaupt beitrittsreif ist. Denn die EU-Verträge sehen vor, dass sich Mitgliedsstaaten gegenseitig "alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung" schulden, falls ein Partner angegriffen wird.

Deutschland will andere Entscheidungsprozesse bei Aufnahme in die EU

Die Bundesregierung will nicht nur Reformen in den Kandidatenstaaten durchsetzen, sondern auch die EU-Entscheidungsprozesse ändern, damit die Gemeinschaft weitere Mitglieder aufnehmen kann.

Berlin setzt sich dafür ein, in der Außen- und Steuerpolitik Mehrheitsentscheidungen anstelle einstimmiger Beschlüsse zu ermöglichen. Das soll verhindern, dass Vetos einzelner Mitglieder die EU handlungsunfähig machen.

Politische und wirtschaftliche Folgen eines Beitritts der Ukraine

Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat erklärt, dass eine EU-Erweiterung im Interesse der Kandidatenstaaten und der Gemeinschaft sei. Politisch gilt das sicher: Es ist erklärtes Ziel der EU, Versuche der Einflussnahme durch Russland und China in Osteuropa und im Westbalkan zurückzudrängen. Dabei würde eine klare Beitrittsperspektive für die betroffenen Länder helfen.

Wirtschaftlich würde sich durch deren Beitritt allerdings das Verhältnis von Zahler- und Nehmerländern in der EU verschieben. Die Ukraine hätte als EU-Mitglied direkten Zugang zu den üppigen Fonds der Gemeinschaft. Das gilt besonders für die Töpfe der Gemeinsamen Agrarpolitik.

In der Ukraine gibt es neben kleinen privaten Landwirtschaftsbetrieben große Staatsunternehmen und Agrarholdings. Die würden nach den geltenden Regeln in hohem Maße von Direktzahlungen profitieren. Damit würde der Kuchen für die derzeitigen Mitgliedsstaaten deutlich kleiner – etwa für Polen, das derzeit besonders von Agrar-Zuwendungen profitiert. Der Getreidestreit von fünf südosteuropäischen EU-Staaten mit der Ukraine hat einen Vorgeschmack auf mögliche Verteilungskämpfe geliefert.

Im Audio: EU-Kommission empfiehlt Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine

EU-Kommission empfiehlt Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine (Symbolbild)
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EU-Kommission empfiehlt Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine (Symbolbild)

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