Der deutsche Atomausstieg liegt ein Jahr zurück – jetzt bekannt gewordene Dokumente heizen die Debatte jedoch erneut an.
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Essenbach: Das stillgelegte Kernkraftwerk Isar 1 (l) und 2.

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Neuer Vorwurf oder alter Atomstreit?

Hätte die Bundesregierung den Atomausstieg wirklich durchziehen sollen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine? Jetzt bekannt gewordene Dokumente entfachen die Debatte von Neuem. Die Opposition fordert Aufklärung.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Es ist ungewöhnlich, dass im politischen Berlin an einem Tag gleich zwei Ausschüsse zu Sondersitzungen zusammenkommen: Umwelt- und Energieausschuss. Der Grund: Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke – beide von den Grünen – sollen sich erklären. Es geht um die Frage: Haben sie die Öffentlichkeit beim Thema Atomausstieg getäuscht? Das zumindest wirft das Magazin "Cicero" den Grünen-Politikern in einem Medienbericht vor.

"Cicero" und der Vorwurf

"Cicero" hatte erfolgreich auf die Herausgabe von Ministeriums-Akten aus den Jahren 2022 und 2023 geklagt. Bei den Akten handelt es sich um Schriftverkehr innerhalb des Ministeriums – also Vermerke, Mails, Antworten. Kurz: Es geht um interne Einschätzungen zum damals für Ende 2022 geplanten Atomausstieg und die Frage, ob die letzten Atomkraftwerke länger laufen sollten.

Zur Einordnung: Den Atomausstieg zum Ende des Jahres 2022 hatte die damalige Regierung von CDU/CSU und FDP nach Fukushima im Jahr 2011 beschlossen. Als 2022 Russland die Ukraine angegriffen hatte, machten sich in Deutschland Sorgen breit, dass die Energieversorgung gefährdet werden könnte. Eine öffentliche wie politische Debatte entfachte sich, die sich um die Frage drehte: Sollen die Atomkraftwerke doch nicht wie geplant zum Jahresende 2022 abgeschaltet werden?

"Cicero" erhebt jetzt durch die Akten den Vorwurf: Fachleute der Grünen – insbesondere im Wirtschaftsministerium – hätten damals getrickst und getäuscht. Sie hätten behauptet, eine Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei Atomkraftwerke sei sicherheitstechnisch nicht vertretbar, obwohl es möglich gewesen wäre. Das Magazin wirft den Ministern vor, kritische Stimmen in den eigenen Häusern und interne Bedenken nicht ausreichend berücksichtigt zu haben.

"Der rechte Pseudo-Skandal 'AKW-Files'"

Der Weblog "Volksverpetzer", der als Faktenchecker gilt, vermutet eine Kampagne und schreibt von einem "rechten Pseudo-Skandal". Dem Magazin "Cicero" werfen die Autoren "rechte Panikmache" und "Lügen" vor, "um den Fall aufzubauschen". Cicero habe entdeckt, "dass ein grünes Ministerium von den Grünen geleitet wird. Und die Verantwortlichen die Entscheidungen getroffen haben."

Von Cicero-Journalist Daniel Gräber heißt es dagegen am Freitagabend im Interview mit BR24 TV: Jeder könne sich ein eigenes Bild machen, ob er oder sie die Interpretation "- was natürlich eine ist, also wir haben die Fakten klargestellt, aber natürlich haben wir sie auch interpretiert – ob unsere eher zutreffen, oder die von Herrn Habeck". Er habe selbst nicht damit gerechnet, dass der Artikel so viel an öffentlicher Debatte auslöse, sagte Gräber. Daran sehe man, dass die Atomdebatte noch nicht erledigt sei.

Im Video: Interview mit Cicero-Ressortleiter Gräber

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Wie gehen die Minister damit um?

Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke weisen die von "Cicero" erhobenen Vorwürfe zurück. Lemke sagte: "Was die Akten anbetrifft, die das Umweltministerium anbetrifft, sind diese dem Cicero bereits seit September letzten Jahres bekannt. Warum er sie jetzt veröffentlicht hat, kann ich nicht beantworten."

Habeck versicherte: "Die Versorgungssicherheit hatte für mich absolute Priorität und das ganze Haus hat ohne Denkverbote, allerdings natürlich immer auf der Basis von Fakten, von Daten und auch von Rechtsnormen gearbeitet." Der Grünen-Politiker verwies darauf, sein Haus habe 2.400 Mitarbeiter, die fachliche Diskussion sei wichtig. Ausschlaggebend für Habeck seien aber die Gespräche mit den Atomkraftwerks-Betreibern gewesen.

Im Juni 2022 hatten diese Bedenken signalisiert: Die Brennstäbe seien verbraucht. Die AKW-Betreiber erteilten den diskutierten Laufzeitverlängerungen zunächst eine Absage. Später korrigierten sie ihre Angaben, so Habeck: "Da hieß es dann, die können doch noch zwei, drei, vier, fünf Monate länger laufen. Und entsprechend wurde dann auch noch einmal die Laufzeit verlängert."

Wie geht es jetzt weiter?

Die Abgeordneten sollten jetzt weitere Unterlagen erhalten, die die Vorwürfe entkräften, das betonten Habeck und Lemke nach der Ausschusssitzung.

Im BR24-Interview kündigte Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef, an, diese intensiv zu prüfen. Wenn sich der Verdacht erhärten sollte, belogen worden zu sein, "dann stellt sich die Frage eines Untersuchungsausschusses." Die bisherigen Erläuterungen Habecks reichen Dobrindt nicht aus. Anders sieht es Olaf in der Beek, klimapolitischer Sprecher der FDP-Fraktionen – für ihn sei "völlig logisch", wie Habeck entschieden habe.

Letztlich hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entschieden: Es gab kurze Laufzeitverlängerungen. Nach monatelangem Streit schaltete sich der Kanzler im Oktober 2022 ein und nutzte seine Richtlinienkompetenz dafür. Er entschied: Die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke sollten über den geplanten Atomausstieg weiter bis 15. April 2023 laufen. Mitte April wurde der endgültige Atomausstieg Deutschlands vollzogen. Doch auch nach dem Abschalten der Atomkraftwerke scheint die Debatte über Kernkraft kein Ende zu finden.

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