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"Mitreden!": Braucht Deutschland wieder eine Wehrpflicht?

Kriegstüchtig werden – das ist die Devise von Verteidigungsminister Pistorius. Er prüft Modelle, mit denen die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht wieder eingeführt werden könnte. Was meinen Sie? Der neue ARD-Talk "Mitreden!", ab 20.15 Uhr im BR24-Stream.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Deutschland darf nie (wieder) ein anderes Land angreifen. So steht es im Grundgesetz, das nach dem von Hitlerdeutschland entfachten Zweiten Weltkrieg verfasst wurde und in genau zwei Wochen 75 Jahre alt wird. Was die Bundesrepublik laut ihrer Verfassung darf: sich selbst und verbündete Staaten verteidigen. Und das mithilfe der Bundeswehr, die diese Hauptaufgabe schon im Namen trägt: "wehr" kommt von "Abwehr" beziehungsweise "abwehren".

Zu diesem Abwehr- und Ernstfall kam es bisher nie. Doch seit dem 24. Februar 2022 und Russlands völkerrechtswidrigem Überfall auf die Ukraine ist der Krieg zurück in Europa – und damit auch die Frage: Wäre die Truppe überhaupt in der Lage, die Bundesrepublik und ihre Nato-Partner zu verteidigen? Fehlt es für einen umfassenden Schutz nicht nur an Material, sondern auch an Personal? War es womöglich falsch, die Wehrpflicht im Jahr 2011 auszusetzen?

Jüngere lehnen Pflichtdienst mehrheitlich ab

Die Wehrpflicht galt 55 Jahre für alle volljährigen männlichen Staatsbürger, bis sie im Jahr 2011 auf Betreiben des damaligen CSU-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg und unter der ehemaligen schwarz-gelben Bundesregierung ausgesetzt wurde, was in der Praxis ihrer Abschaffung gleichkam. Auch die Zivildienst-Ära endete am 30. Juni 2011.

Zu diesem Zeitpunkt konnte von einer Wehr-"Pflicht" schon keine Rede mehr sein. Im Jahr 2010 waren rund 57.000 Männer eingezogen worden [externer Link], die Zahl der Zivildienstleistenden und vor allem die der Zurückgestellten und Ausgemusterten war um einiges größer, auch die fortwährenden Verkürzungen der Dienstdauer auf zuletzt nur noch sechs Monate hatten den jahrzehntelangen Trend nicht gestoppt. Eine Wehrgerechtigkeit, nach der die Landesverteidigung möglichst gleichmäßig allen männlichen Bürgern auferlegt werden soll, war längst nicht mehr gegeben. Heutzutage wird diese Wehrgerechtigkeit nur noch im Spannungs- und Verteidigungsfall relevant – aber weil dieser eben wegen der russischen Aggression wahrscheinlicher geworden ist, wünschen sich viele eine Wehrpflicht zurück.

Eine Forsa-Umfrage im Auftrag des "Stern" vor knapp zwei Monaten kam zu dem Ergebnis: 52 Prozent sind für die Wiedereinführung der Wehrpflicht, 43 Prozent dagegen. Wobei die Ansicht jüngerer Menschen vom Gesamtbild stark abweicht: Hier ist eine klare Mehrheit gegen einen militärischen Pflichtdienst [externer Link]. Ein Ergebnis, das in anderen Befragungen ähnlich ausfällt.

Audio: Umfrage zur Wehrpflicht

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Für Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist eines zumindest klar: So kann es nicht weitergehen. Einerseits kennt auch er die Schwierigkeiten, die mit der Wiedereinführung verbunden wären. Jüngst räumte er in der ARD-Sendung "Maischberger" die finanziellen und rechtlichen Hürden ein; es werde schwierig, sagte er, eine aus seiner Sicht erforderliche Grundgesetzänderung noch in dieser Legislaturperiode hinzubekommen. Der Hintergrund seiner Skepsis: Solange die Nato nicht direkt angegriffen wird, braucht es für Wiedereinführung einer Wehrpflicht eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat.

Große Skepsis bei SPD, FDP und Grünen

Hinzu kommt: Nicht nur die Regierungspartner FDP und Grüne sind gegen die Wehrpflicht; auch in seiner eigenen Partei finden sich zahlreiche namhafte Kritiker: Kanzler Olaf Scholz will "keine Wehrdienste wie früher" [externer Link] , SPD-Chef Lars Klingbeil hält die Wehrpflicht "für nicht zeitgemäß". aus Sicht der Co-Vorsitzenden Saskia Esken ist die Bundeswehr "so als Berufsarmee jetzt auch gut aufgestellt", Generalsekretär Kevin Kühnert lehnt eine Dienstpflicht ab, genau wie die Linke.

Kaum trösten geschweige denn helfen kann dem Verteidigungsminister die Tatsache, dass andere Oppositionsparteien ebenfalls intensive Diskussionen führen. Die Spitze der Union plädiert für ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr", die Junge Union und der schleswig-holsteinische Landesverband der CDU wünschen sich im Grundsatzprogramm zusätzlich den Satz: "Wir werden die Aussetzung der Wehrpflicht schrittweise zurücknehmen und eine Wehrpflicht für alle einführen". Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther liebäugelt hierbei wie Minister Pistorius mit dem schwedischen Modell: Alle 18-Jährigen eines Jahrgangs werden angeschrieben und müssen einen Fragebogen ausfüllen, die geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten werden zur Musterung geladen. Beim derzeit laufenden Parteitag der Bundes-CDU in Berlin wird über die Wehrpflichtfrage diskutiert werden.

Und die AfD? Hat den Grundwehrdienst für junge Männer seit langem im Programm, fiel aber zugleich mit russlandfreundlichen Positionen und Äußerungen sowie mit Friedensbotschaften auf. Das BSW tritt ebenfalls für Frieden ein, sieht die Nato kritisch und warnt – mit Blick auf die von einigen geforderten und ebenfalls viel diskutierten Zivilschutzübungen an Schulen – in Person der sächsischen Spitzenkandidatin Zimmermann vor einer "schleichenden Militarisierung" der Gesellschaft. Es ist also eine interessante Gemengelage in Berlin.

Karte: Die militärische Lage in der Ukraine

Andererseits weiß nicht nur Pistorius um die Frontentwicklung in der Ukraine, die veränderte Bedrohungslage in Europa und die nicht nur im Osten Europas verbreitete Sorge vor Angriffen Russlands auch auf andere Länder. Auf allen Ebenen stehe deshalb "die Landes- und Bündnisverteidigung wieder im Fokus", sagte der SPD-Minister in der vergangenen Woche.

Die zahlreichen Auslandseinsätze und -Missionen werden deshalb wohl an Bedeutung verlieren. Was aber die Personal- und Akzeptanzprobleme nicht löst: Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten ist im vergangenen Jahr auf knapp 182.000 gesunken; das Vertrauen in die Bundeswehr ist gering, die Berührungspunkte der Menschen zur Truppe sind deutlich geringer als noch zu Zeiten des Kalten Krieges, als die Wehrpflichtarmee eine halbe Million Mann umfasste und der Musterungsbescheid rund um den 18. Geburtstag ins (Eltern-)Haus eines jeden jungen Mannes flatterte.

Pistorius kündigt konkreten Vorschlag an

Die Personalsuche stockt überdies. Trotz intensiver Recruiting-Maßnahmen und Werbekampagnen erscheint das für 2031 anvisierte Ziel von dann 203.000 Soldatinnen und Soldaten kaum zu erreichen. Der demographische Wandel und der allgemeine Arbeitskräftemangel tun ihr Übriges.

Und so sagte Pistorius vor knapp zwei Wochen, er werde "ein paar politische Gespräche" führen. Aktuell lässt er verschiedene Modelle prüfen, beleuchtet auch solche in anderen Ländern. Seine Ankündigung: "Ich denke, ich werde noch im Mai mit einem konkreten Vorschlag rauskommen".

Wie sollte ein solcher Vorschlag aussehen? Sollte der Staat vielleicht Frauen und Männer, womöglich sogar alle Bürgerinnen und Bürger wieder mehr in die Pflicht nehmen, würden bei einer Wehrpflicht Vor- oder Nachteile überwiegen? Und braucht Deutschland auch eine neue Version des Zivildiensts wieder?

Sagen Sie uns heute Abend Ihre Meinung, unter der Nummer 0 8000 44 17 77. Ab 20.15 Uhr in "Mitreden! Deutschland diskutiert". Auf BR24 im Radio und in den anderen ARD-Infowellen, im BR24-Livestream und in der ARD Audiothek. Zu Gast bei der Premierensendung aus München sind unter anderem André Wüstner, der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, und Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes.

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