Der Werkstattsbereich einer Behindertenwerkstatt von "noris inklusion", aufgenommen in Nürnberg (Archivbild)
Bildrechte: picture alliance / dpa | Daniel Karmann

Angestellte in einer Werkstatt (Archivbild)

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Menschen mit Beeinträchtigung: 212 Euro Arbeitslohn – im Monat

Die Vereinten Nationen und das EU-Parlament haben die Bundesregierung gerügt: Sie soll Menschen mit Behinderung in Deutschland den Weg in den Arbeitsmarkt erleichtern. Passiert ist aber bislang wenig – und am jetzigen System gibt es viel Kritik.

Über dieses Thema berichtet: report MÜNCHEN am .

Philipp Orenic ist froh, dass er eine reguläre Anstellung in einem Hotel in Augsburg gefunden hat. Denn er hat eine kognitive Beeinträchtigung. Üblicherweise arbeiten Menschen mit dieser Diagnose in Deutschland in speziellen Werkstätten. Dort stellen sie Produkte für die Industrie her – der Stundenlohn liegt deutlich unter dem Mindestlohn in Deutschland.

Das Hotel "einsmehr" in Augsburg ist eine von wenigen privaten Initiativen, die Menschen wie ihm eine Chance auf einen Job außerhalb der Werkstätten bieten. Er arbeitet im Housekeeping. Ihm macht die Arbeit Spaß. 30 Minuten für ein Hotelzimmer, das ist die Zeitvorgabe, die sich das Team selbst gegeben hat und die er einhält.

Der 20-Jährige hat den Abschluss einer Förderschule. Damit darf er keine klassische Berufsausbildung machen. Und ohne Ausbildung bekommt er kaum einen Job – auch wenn Fachkräfte händeringend gesucht werden.

Oft keine Chance auf bezahlte Arbeit

"Weil die Berufsausbildung in Deutschland an die Berufsschulpflicht gekoppelt ist, fehlt ein passendes Angebot für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung", sagt Jochen Mack, Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins "einsmehr".

Die Elterninitiative hat das Problem erkannt und ist mit Unterstützung von Spenderinnen und Spendern sowie der "Aktion Mensch" aktiv geworden. Im "einsmehr"-Hotel in Augsburg bilden sie Menschen mit kognitivem Handicap zu Hotelpraktikern aus. Philipp Orenic hat diesen Kurs durchlaufen und ist jetzt festangestellt. Gut die Hälfte der Belegschaft im Hotel "einsmehr" hat eine kognitive Einschränkung.

Privatinitiative schafft, was Arbeitsagentur selten gelingt

Eigentlich haben Werkstätten für behinderte Menschen den Auftrag, sie für den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Die Bundesagentur für Arbeit soll sie vermitteln. Doch nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales lag die Vermittlungsquote 2019 bei nur 0,35 Prozent.

Das Ministerium will an dem aktuellen System dennoch nichts ändern. Derzeit seien keine weiteren gesetzlich geregelten Ausbildungsangebote geplant, "die Menschen mit Behinderung eine Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt bieten", teilt das Ministerium auf Anfrage von report München mit.

Mehrere Rügen: Deutschland verstößt gegen UN-Konvention

Das deutsche Werkstattsystem wurde vom zuständigen UN-Ausschuss schon 2015 gerügt – und 2021 vom EU-Parlament. Beide Institutionen haben Deutschland aufgefordert, das Werkstatt-System auslaufen zu lassen und insbesondere Menschen mit geistigen Behinderungen beim Zugang zum regulären Arbeitsmarkt besser zu fördern.

Doch passiert ist seither wenig. Die Vermittlungsquote liegt seit Jahren deutlich unter einem Prozent und die Zahl der in Werkstätten Beschäftigten weitgehend stabil bei knapp 300.000.

  • Zum Artikel: Erste inklusive Jobmesse in Bayern: Arbeiten gegen Vorurteile

"Ausbeutung": 40 Stunden Woche für 212 Euro Verdienst

Im Jahr 2021 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit 35 bis 40 Stunden pro Woche, so das Bundesarbeitsministerium. Der durchschnittliche Verdienst lag demnach bei 212 Euro im Monat. "Ausbeutung" sei das, sagt die Europaabgeordnete der Grünen, Katrin Langensiepen. Denn die Werkstätten würden Aufträge für viele namhafte Industriebetriebe erledigen.

"Nirgendwo auf der Welt können sie so günstig produzieren wie in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung", sagt die Europa-Politikerin im Interview mit report München. Das liege auch an der Tatsache, dass die Betriebe mit Aufträgen an die Werkstätten die sogenannte Ausgleichsabgabe vermeiden könnten. Denn ab einer Zahl von 20 Beschäftigten müssen Betriebe Menschen mit Behinderung einstellen oder eine Ausgleichsabgabe zahlen.

"Ein System, von dem alle profitieren, nur nicht die Menschen mit Behinderung", sagt die Abgeordnete, die für das EU-Parlament den Bericht zum Stand der Inklusion verfasst hat.

Erwerbsminderungsrente: Anspruch nach 20 Jahren

Gegenüber report München verweist das Ministerium darauf, dass die Beschäftigten in den Werkstätten Grundsicherung und Betreuungsleistungen erhielten – und nach 20 Jahren Beschäftigung Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hätten. Dieses Argument reicht Katrin Langensiepen und Jochen Mack aber nicht aus. Schließlich gelte in Deutschland der Mindestlohn – und auf den sollten alle Menschen Anspruch haben.

Mehr zum Thema "Menschen mit Behinderung als Verlierer am Arbeitsmarkt" in der Sendung report München am 31.01.2023 um 21:45 Uhr im Ersten oder in der ARD Mediathek.

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