Am Rande des NATO-Gipfels in Litauen spricht der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan auf einer Veranstaltung am 12. Juli 2023
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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan auf einer Veranstaltung am Rande des NATO-Gipfels in Vilnius

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Nach dem Nato-Gipfel: Mischt Erdoğan seine Karten neu?

Der türkische Präsident Erdoğan hat sein Veto gegen die Nato-Betritt Schwedens aufgehoben. Er räumt damit den Weg frei für die Aufnahme des skandinavischen Landes. Fast - denn dass das nicht so schnell gehen wird, gehört zu Erdoğans Machtpolitik.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Die Erleichterung war bei allen Nato-Staats- und -Regierungschefs groß, als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am Vorabend des Gipfeltreffens in Vilnius seinen hartnäckigen Widerstand gegen die Aufnahme Schwedens in das Bündnis beendete. Mit der größtmöglichen politischen Wirkung und dem Gespür für den effektivsten Zeitpunkt, um seine Kehrtwende mitzuteilen, sorgte er im Kreise der Alliierten für deutlich vernehmbares Aufatmen.

Dieses kollektive Gefühl im Kreis der Verbündeten spiegelte sich in deren Tweets wider: "Das ist ein historischer Moment", lobte der britische Premier Rishi Sunak. Die gemeinsamen Anstrengungen "haben sich ausgezahlt", textete die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Und Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson, dessen Land über ein Jahr lang von Erdoğan hingehalten worden war (und auch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán) erklärte: "Das fühlt sich sehr gut an!"

Warum lenkte Erdoğan ein?

Doch welche Erklärungen sind für das Verhalten Erdoğans plausibel? Wie ist das abrupte Ende seines Vetos gegen die Nato-Aufnahme Schwedens zu erklären? Und warum hatte Erdoğan den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unmittelbar vor dem Gipfeltreffen der Allianz demonstrativ daheim empfangen, dessen Nato-Ambitionen unmissverständlich bekräftigt und ihn schließlich mit mehreren Kommandeuren zurückfliegen lassen? Mit Kommandeuren, die im Asow-Stahlwerk von Mariupol bis zuletzt gegen die russischen Invasoren ausgeharrt hatten und im Zuge eines Gefangenenaustauschs seit Herbst vergangenen Jahres in der Türkei bis zu einem Kriegsende eigentlich dort auch bleiben sollten?

Erdoğans politisches Kartenblatt war ausgereizt

Für den türkischen Präsidenten war seit seiner Wiederwahl im Mai klar: Er würde mit einem Festhalten an seinem Veto gegen die Aufnahme Schwedens bis zum Nato-Gipfeltreffen Mitte Juli in Litauen den politischen Druck auf das Bündnis massiv erhöhen können, um ein wesentliches Ziel gesichert zu erreichen: die langersehnte Freigabe von amerikanischen F-16 Kampfflugzeugen sowie weiterer amerikanischer Rüstungsgüter für die türkische Luftwaffe durch den US-Kongress.

Zugleich würde Erdoğan sein überwiegend negatives Image innerhalb der Nato als unberechenbarer, egoistischer Bündnispartner mit einem Ja zu Schweden aufhellen können. Genau diese Argumente hielt US-Präsident Biden dem türkischen Präsidenten in einem Telefonat am letzten Sonntag vor Augen, noch vor Beginn des Nato-Gipfels: Sollte Erdoğan seine Blockade aufheben und mit Schweden den nordeuropäischen Nato-Aufnahmeprozess abschließen, dann würde sich auch die Stimmung im US-Kongress ihm gegenüber deutlich verbessern, Erdoğans Rüstungswünsche zu erfüllen.

Der türkische Staatspräsident dürfte die Vor- und Nachteile einer weiteren Blockadehaltung abgewogen haben und zu dem Schluss gekommen sein: Sein politisches Kartenblatt ist ausgereizt, mehr geht nicht mehr.

Offiziell kein Zusammenhang zwischen F-16 Jets und Ja zu Schweden

Lange Zeit hatten Abgeordnete und Senatoren beider Parteien im US-Kongress das Drängen Erdoğans zurückgewiesen, für eine Verkaufssumme von 20 Milliarden Dollar die neuesten Varianten der US-Air-Force-Jets an die Türkei auszuliefern. Die Biden-Administration machte nach Informationen der "New York Times" in den entscheidenden Stunden vor dem Nato-Gipfel Erdoğan klar, "dass es einfacher wäre, den Kongress (positiv) zu beeinflussen", wenn der türkische Präsident zuerst dem schwedischen Nato-Aufnahmeantrag zustimmen würde.

Obgleich Washington und Ankara stets nach außen hin beteuerten, dass die beiden Fragen nichts miteinander zu tun hätten, kam es in Litauen genau zu diesem Deal: Zustimmung zu Schweden gegen Lieferung von F-16 Maschinen. Beides hängt - noch - von den Parlamenten in Washington und in Ankara ab: Der US-Kongress muss noch über die Auslieferung der Kampfflugzeuge entscheiden. Und: Das türkische Parlament wird sich erst nach der Sommerpause Anfang Oktober mit der Ratifizierung des Nato-Beitritts beschäftigen.

Verstimmung über Erdoğan in Russland

In dieser Woche sendete der türkische Präsident, der ungeachtet des Angriffskriegs Moskaus gute Kontakte zu Wladimir Putin unterhält, mehrere Signale an den Kreml aus - Signale, die dem Kreml allesamt nicht gefallen haben.

Es war im russischen Interesse, die Aufnahme Schwedens in die Nato zu verhindern - nicht zuletzt deshalb, weil mit dem Beitritt Schweden die Ostsee zu einem - wie es mittlerweile von Militärexperten salopp formuliert wird - "Nato-See" werden wird. Das zweite Signal: der erstmalige Besuch des ukrainischen Präsidenten seit Kriegsbeginn bei Erdogan am vergangenen Wochenende und die Freilassung der ukrainischen Asow-Kommandeure, die in der Ukraine als Helden gefeiert werden. Das dritte Signal: Die Ukraine beginnt den Bau der türkischen Bayraktar-Drohnen.

Die Türkei sei dabei, sich "langsam, aber sicher von einem neutralen Land in ein unfreundliches Land zu verwandeln", wie die "Washington Post" den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Föderationsrat Russlands zitiert. Unkommentiert lasse Moskau zudem die Ankündigung einer weiteren Militärhilfe Ankaras an Kiew: So habe der Sprecher des ukrainischen Generalstabs erklärt, die Türkei werde Artillerie-Haubitzen vom Typ T-155 Firtina liefern.

Wiederannäherung an den Westen, mehr Distanz gegenüber Putin?

Am Sonntag werde er mit dem russischen Präsidenten telefonieren, kündigte Erdoğan am Freitag an. Das Getreideabkommen zwischen den UN, Ukraine und Russland werde verlängert. Im August werde Putin zu einem Besuch in der Türkei erwartet. Offenkundig tariert Erdoğan die außen- und sicherheitspolitischen Gewichte des Landes neu aus und passt sie seinen derzeitigen Erfordernissen an: Nach dem Nato-Gipfel nähert er sich wieder den USA und den Nato-Partnern.

Dabei spielt auch das wirtschaftliche Interesse der Türkei eine erhebliche Rolle, ausländische, westliche Investoren zum Engagement in einem Land zu gewinnen, das unverändert von schwindenden Exporten, tiefem Währungsverfall und sehr hoher Inflation geprägt ist. Gegenüber Putins Russland nimmt Erdoğan die zwischenzeitliche Verstimmung des Kremls in Kauf. Offenbar in der Annahme, dass Putin inzwischen in einer schwächeren Positionen ihm gegenüber ist als noch vor einem Jahr.

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