Kommentar: Parteiversagen auf Social Media
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BR-Chefredakteur Christian Nitsche

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Kommentar: Parteiversagen auf Social Media

Der Niedergang etablierter Parteien liegt auch daran, dass sie nie die Hoheit über die digitalen Stammtische errungen haben, kommentiert BR-Chefredakteur Christian Nitsche. Sträflich - letztlich ein Politikversagen mit Risiken für die Demokratie.

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Die Stärke der AfD ist nicht nur das Ergebnis einer aus Sicht vieler verfehlten Zuwanderungspolitik. Sie leitet sich auch vom Kommunikationsversagen bislang etablierter Parteien in den Sozialen Medien ab. Die AfD konnte sich hier über Jahre nahezu ungestört entwickeln. Das liegt nicht nur an den Algorithmen. Bis heute investieren andere Parteien viel zu wenig Personal in diesen Bereich.

Es reicht einfach nicht, täglich einen Post mit den eigenen politischen Positionen im Internet abzusetzen. Der Meinungskampf muss von den Parteien schon aktiv betrieben werden. Viel mehr Interaktion wäre nötig. Und die Dominanz in den Kommentarbereichen müsste das Ziel sein. Eine Partei müsste hier eine eigene starke, aktive und loyale Community aufbauen. Die AfD hat das geschafft. Aber noch scheint bei Politikern anderer Parteien der Fokus eher auf einem abgedruckten Interview in der Zeitung oder auf einem O-Ton im TV zu liegen. Das wird der veränderten Medienwelt längst nicht mehr gerecht. Man erreicht nur noch Ausschnitte der Gesellschaft.

Lügen auf Telegram erreichen Millionen

Das Handeln ist nicht entschlossen genug. Wie gelähmt wirken ehemalige Volksparteien mit halbherzigen Social-Media-Strategien. Sie lassen Wissenschafts- und Demokratiefeinden Raum für eine permanente Kampagne gegen die Grundfesten des Staates. Und das, obwohl zum Beispiel das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) vor bald einem Jahr Alarm geschlagen hat: Die Plattform Telegram sei zur wichtigsten Plattform für Verschwörungserzählungen geworden: "Mit dem Messengerdienst erreichen zahlreiche Kanäle täglich Hunderttausende - die Anzahl der Aufrufe einiger Nachrichten geht in die Millionen."

Aber Politiker nehmen den Kampf hier nicht auf, genügen sich schon, wenn sie regelmäßig eine Instagram-Story in schönem Licht im Netz aufblitzen lassen. Das war's. Wenn man sie vor die Wahl stellen würde, ob sie lieber ein Wahlplakat oder einen Wahlkampfstand auswählen würden, wäre es klar: Dialog ist wichtiger als ein Blatt Papier. Aber im Internet lassen viele Dialog vermissen.

Im Internet haben Lügen lange Beine

Der Kampf um Wähler muss heute anders geführt werden. Wegschauen hilft nicht. Längst müsste doch klar sein: Wenn sich jemand jeden Tag auf den Marktplatz stellt und "die lügen" ruft, aber nur selten jemand widerspricht, dann ist gut möglich, dass Passanten nach geraumer Zeit glauben, da ist vielleicht doch etwas dran. Die ständige Wiederholung zeigt Wirkung. Propaganda untergräbt so das Ansehen von Institutionen. Wenn sich dann noch Zukunftsängste bei vielen Menschen breit machen, entsteht eine gefährliche Mixtur. Und von dieser profitiert besonders die AfD. Dass es sich um eine in immer größer werdenden Teilen rechtsextreme Partei handelt, berührt viele Anhänger nicht. Soweit ist es schon. Tabus verlieren ihre Gültigkeit. In Sozialen Medien werden Verfassungsfeinde zu Rettern der Demokratie umgedeutet. Demokratie wird zum Kampfbegriff, der sich gegen Demokratie richtet. Absurd, aber eine ernstzunehmende Entwicklung.

Europa ohne Mut im Internet

Dieses Kommunikationsversagen begann schon vor Jahren, als Europa es versäumte, eigene Soziale Plattformen am Markt mit anderen Algorithmen zu etablieren. Die großen US-Plattformen bestimmten den Markt, dann erkannte auch China die strategische Bedeutung von Social. Aber Europa zuckte immer mit den Schultern. Wiederholte Vorstöße, wenigstens auf den fahrenden Zug mit einer europäischen Plattform aufzuspringen, ließen politische Entscheidungsträger im Sande verlaufen. Diese Mutlosigkeit fällt den etablierten Parteien jetzt auf die Füße.

KI-Risiko größer als Klimawandel

Und der Fehler der Vergangenheit wiederholt sich: Laut aktuellem Weltrisikobericht sind KI-generierte Fake News und Cyberangriffe weltweit das größte Risiko, noch vor Extremwetter-Ereignissen und bewaffneten Konflikten. Aber ein Mittel, wie Falschnachrichten - erzeugt von Künstlicher Intelligenz - effektiv eingedämmt werden könnten, ist nicht greifbar. Das politische Versagen setzt sich fort. Die Geschwindigkeit der Debatte ist viel geringer als die Innovationsgeschwindigkeit. Und mit ihr wachsen die Risiken. Alles ist fälschbar: das Gesicht, die Mimik, die Aussprache, der Politiker. Wenn die Menschen nicht mehr wissen, was sie glauben sollen, folgen sie leichter der Pfeife der Rattenfänger.

Höhere Strafen für Hetze und Lügen

Die Dynamik des Wandels der Kommunikation ist also längst ein bedeutender politischer Faktor, der Wahlen entscheiden kann. Sie wächst Politikern, die sich selbst als überzeugte Demokraten bezeichnen, über den Kopf. Ein Demokrat muss die Demokratie doch schützen. Das heißt aber, den Kampf um die Hoheit auch in Sozialen Medien tatsächlich aufzunehmen. Es bedeutet zudem, Qualitäts-Medien zu stärken, die Falschnachrichten aus dem Netz filtern, statt ihre Finanzierungsgrundlagen in Frage zu stellen. Es erfordert, Künstliche Intelligenz zu kontrollieren und die Strafen für das Verbreiten von Hetze, Fake News und Umsturzphantasien zu erhöhen.

Machtverlust der Parlamente

Also, aufwachen! Die Gewalt der Worte ist nicht zu unterschätzen. Feinde der Demokratie wollen die Menschen über Soziale Medien auseinander treiben, sie dann gegeneinander aufhetzen, das Reale als Fake darstellen, das Land letztlich schwächen und Freiheit zersetzen. Jahrelang scheinen Politiker diese Gefahr unterschätzt zu haben. Jetzt dämmert es: Was als richtig oder falsch gilt, wird nicht mehr effektiv im Parlament verhandelt, sondern im Internet.

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