Rotkäppchen und der böse Wolf
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Kindern vorlesen: Sind Märchen noch pädagogisch wertvoll?

Es war einmal - von wegen! Märchen werden noch heute in Kinderzimmern erzählt. Kritiker sagen, sie wären grausam und spiegelten überholte gesellschaftliche Ideale wider. Die Autorin Barbara Senckel erklärt, wieso sie für Kinder trotzdem wichtig sind.

Über dieses Thema berichtet: Theo.Logik am .

Kinder lieben Märchen. Auch wenn jährlich unzählige neue Kinderbücher erscheinen - die Geschichten von Rotkäppchen, Frau Holle, Aschenputtel und vielen anderen Prinzessinnen und Prinzen verlieren nie ihren Reiz. Und das, obwohl die Texte aus der Zeit gefallen zu sein scheinen.

Kritiker bemängeln, Märchen würden teils vollkommen überholte gesellschaftliche Ideale widerspiegeln, transportierten ein veraltetes Frauenbild und enthielten für Kinder zu grausame Darstellungen. Die Entwicklungspsychologin und Autorin Barbara Senckel sieht das anders. Im Interview für das Bayern 2 Magazin Theo.Logik erklärt sie, warum Märchen Kindern Kraft geben und immer aktuell bleiben.

Anna Kemmer: Was fasziniert Sie persönlich an Märchen?

Barbara Senckel: Mich fasziniert an Märchen vieles. Erstens fasziniert mich, dass alle Kulturen der Erde Märchen oder märchenhafte Geschichten hervorgebracht haben. Märchen befriedigen offensichtlich ein tiefes menschliches Bedürfnis. Sodann erstaunt mich ihre Langlebigkeit. Die meisten Stoffe der Volksmärchen sind viele Jahrhunderte alt und finden sich in Varianten in vielen europäischen Ländern. Und schließlich begeistert mich die in ihnen verborgene Weisheit. Märchen sind eben keineswegs überholte Geschichten aus glücklicherweise vergangenen gesellschaftlichen Epochen. Vielmehr schildern sie in symbolischer Form Lebensprobleme, mit denen sich Menschen seit eh und je herumschlagen. Und sie zeigen, wie mögliche Lösungswege aussehen können.

Kemmer: Können Sie ein Beispiel nennen?

Senckel: Da fällt mir das Märchen "Das Eselein" ein. Es handelt von der Erfahrung, in seinem Wesen von wichtigen Menschen, z. B. den Eltern, nicht angenommen und geschätzt zu sein, sondern als "Esel" betrachtet zu werden. Es schildert den Lösungsweg bis zum glücklichen Ende, wo die "Eselshaut" verbrannt wird und die eigentliche Persönlichkeit angstfrei leben kann.

Märchen haben nie gesellschaftliche Realität abgebildet

Kemmer: Manche kritisieren, dass Märchen aus heutiger Sicht zu grausam sind oder vollkommen überholte gesellschaftliche Ideale widerspiegeln. Stimmt das?

Senckel: Märchen haben zu keiner Zeit die gesellschaftliche Realität korrekt dargestellt oder deren Ideale vertreten, obgleich sie sich durchaus der Bilder früherer Epochen bedienen. Sie sind symbolische Geschichten. Auf symbolischem Weg stellen sie die psychische und soziale Wirklichkeit dar. Und zu ihr gehören auch der Konflikt und das Böse. Schon Kinder setzen sich mit dieser Tatsache auseinander. Märchen helfen ihnen dabei, dass auf eine konstruktive Weise zu tun. Denn in ihnen siegt am Ende immer das Gute. Das verleiht ihnen Mut und Hoffnung, sich ihrer oftmals schwierigen Lebensrealität zu stellen.

Kemmer: Was sollten Eltern beim Vorlesen beachten? Welche Märchen würden Sie vorlesen und welche eher nicht?

Senckel: Eltern kennen ihre Kinder. Sie sollten sie beobachten und sich von ihren Reaktionen leiten lassen. Viele Kinder haben überhaupt keine Probleme damit, wenn der Märchenheld oder die Märchenheldin einer Hexe, einem Riesen oder Räuber begegnet und in eine bedrohliche Situation gerät. Sie finden das einfach nur spannend. Und eine drastische Strafe erscheint ihnen gerecht. Dann sind solche Märchen für die Kinder o. k., denn sie stellen sich nicht mehr vor, als sie emotional verkraften. Andere Kinder reagieren da sensibler. Ihnen würde ich Märchen vorlesen, die keine grausamen Elemente enthalten. Davon gibt es genügend. Sehr schön ist z. B. das Märchen "Die drei Federn" oder "Das Waldhaus".

Märchen sind wertvoll für Kinder sowie Erwachsene

Kemmer: Welche Märchen machen stark?

Senckel: Märchen stärken die Kinder, wenn sie zu ihrer Entwicklungsthematik passen und einen positiven Lösungsweg für die inneren Konflikte anbieten. Damit die Märchen ihre Kraft wirklich entfalten können, sollten Kinder jedoch ein und dasselbe Märchen mehrfach hören. Sie können es auch mit Figuren oder im Rollenspiel nachspielen oder einzelne Szenen malen.

Kemmer: Was war Ihre Motivation für Ihr Buch "Starke Märchen für starke Kinder?"

Senckel: Märchen sind ein Teil unseres kostbaren Kulturschatzes. Sie sind wertvoll für Kinder und Erwachsene, haben also jedem Lebensalter etwas zu bieten. Das wollte ich Eltern, Großeltern und Pädagogen zeigen. Deshalb habe ich – teilweise wenig bekannte – besonders schöne Märchen der Brüder Grimm ausgewählt. Ich habe herausgearbeitet, um welche Entwicklungsthemen es sich in diesen Märchen handelt, wie der Lösungsweg aussieht, welche Botschaften sie auch für Erwachsene bereithalten und ab welchem Alter sie für Kinder geeignet sind. Ich hoffe, dass das Buch viele Freunde findet.

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Barbara Senckel

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