Der Widerstand gegen Justizreform in Israel wächst.
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Der Widerstand gegen Justizreform in Israel wächst.

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Justizreform: Israel steht vor der Zerreißprobe

Es ist der heftigste innenpolitische Streit, der Israels Gesellschaft seit langem erfasst hat. Und er steuert an diesem Wochenende seinem Höhepunkt zu. Denn am Montag soll ein wesentlicher Teil der sogenannten Justizreform verabschiedet werden.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es dürfte der berühmte Tropfen gewesen sein, der das Fass der Entrüstung über das Vorgehen der rechts-nationalreligiösen Regierung endgültig zum Überlaufen gebracht hat: Die abendliche Fernseh-Ansprache von Premier Benjamin Netanjahu, in der er am Donnerstag ungerührt in die TV-Kameras sprach: Die Justizreform werde umgesetzt. Auch bleibe es bei der Abschaffung des Rechts der Obersten Gerichtshofs, Entscheidungen der Regierung als "unangemessen" zurückzuweisen.

Netanjahu wörtlich: "Das stärkt die Demokratie." Den Hunderttausenden Israelis, die seit Jahresbeginn unverdrossen gegen den – wie sie es nennen – "Justizcoup" demonstrieren, blieb die Spucke weg. Dass stärke die Demokratie? Ex-Premier Yair Lapid wollte es kaum glauben. "Wir sehen einen Regierungschef, der das Land zerreißt, anstatt es zusammenzuführen."

Direkt nach dem Ende der abendlichen TV-Ansprache Netanjahus strömte die Protestbewegung auf die Straßen aus, zur "Nacht des Widerstands". Demonstranten blockierten in Tel Aviv, Jerusalem, Ra'anana, Haifa und anderen Städten Autobahnabschnitte und große Straßenkreuzungen, hielten ihre Symbole des Widerstands in den nächtlichen Himmel, die israelische Fahne. Die Polizei setzte Wasserwerfer und berittene Beamte ein. In den sozialen Netzwerken verbreiteten sich in Windeseile Handy-Videos von brutalen Festnahmen, von Schlagstockeinsätzen, von verletzten Demonstranten.

Kein Zeit mehr

Viel Zeit hat die Protestbewegung nicht mehr, um das aufzuhalten, was sie als das Ende von Demokratie und Rechtstaatlichkeit im Land betrachtet. Schon am kommenden Montag will Netanjahus Koalition aus Likud, zwei ultraorthodoxen und zwei rechtsextremen Parteien genau dieses Recht des Obersten Gerichtshofs ersatzlos streichen, mit dem das Richtergremium Maßnahmen der Regierung als unangemessen zurückweisen kann. In der Knesset, dem 120 Mandate umfassenden israelischen Parlament, verfügt die Koalition über 64 Stimmen. Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die Netanjahu und die Kabinettsmitglieder als ihre "Erzfeindin" betrachten, warnt seit langem vor den Folgen dieses Gesetzes. Jetzt, in den wenigen Tagen bis zur Verabschiedung, legt die Generalstaatsanwältin nach.

Generalstaatsanwältin warnt vor "schädlichen Auswirkungen"

Die vorgeschlagene Gesetzgebung zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel habe "weitreichende Folgen und schädliche Auswirkungen." Die Regierung könnte dann für hohe Posten in Polizei, Verwaltung und Politik "ungeeignete Personen" ernennen und missliebige Amtsträger entlassen, die "ihre Aufgabe pflichtbewusst erfüllt haben." Das Gesetz stelle eine "ernste Bedrohung für die Immunisierung der Regierung gegen willkürliche Entscheidungen dar", wie die Tageszeitung "Ha'aretz" die Generalstaatsanwältin zitiert.

Bereits jetzt schon hat Israels Öffentlichkeit eine klare Vorstellung davon, wie etwa der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Ben Gvir, mit hochrangigen Beamten umspringt. Tel Avivs Polizeichef legte vor über zwei Wochen sein Amt nieder. Öffentlich erklärte er, er gehe, weil er sich dem Druck Ben Gvirs widersetzt habe, Gewalt gegen die Demonstranten auszuüben. Die Chefin der israelischen Gefängnisverwaltung kündigte am Donnerstag an, sie wolle ihre Amtszeit nicht verlängern. Der Grund: Ben Gvir habe ihr ständig hineinregiert in Vorgänge, die ihn von Amtswegen nichts angingen. Der Minister habe sie "die ganze Zeit angelogen." Das "rüpelhafte Verhalten" Ben Gvirs habe sie zu dieser Entscheidung veranlasst, wie Vertraute der Gefängnis-Chefin deren Motive gegenüber israelischen Medien beschrieben.

Rebellieren die Reservisten?

Das Einzige, was Premier Netanjahu aufhalten würde, sei das "Ausmaß des Drucks", der auf ihn ausgeübt werde. Diese Aussage in einem Kommentar der Tageszeitung "Yedioth Achronoth" am Freitag gehört seit Jahren zu den konstanten Analysen in Israels Politik und Medien, wie sich Netanjahu verhält, wenn er unter massivem Druck steht. Belege dafür gibt es allein seit Beginn der Protestbewegung gegen die sogenannte "Justizreform" im Januar zu Hauf.

Bekanntestes Beispiel: Als Verteidigungsminister Yoav Galant Ende März öffentlich Kritik an der Justizreform und deren Auswirkungen auf die Streitkräfte übte, entließ ihn Netanjahu sofort. Ein Sturm der Empörung war das Ergebnis, vor allem unter aktiven Soldaten und Reservisten. Sie kündigten an, ihren Dienst zu quittieren bzw. nicht mehr zu den sehr regelmäßigen Reserveübungen zu erscheinen.

Ohne öffentlich die Entlassung seines Verteidigungsministers zurückzunehmen, beließ der Premierminister den Ressortminister im Amt. Der Druck hatte gewirkt. Jetzt droht Netanjahu aus den gleichen Reihen massiven Widerstand. "Was ihn (Netanjahu) am meisten beunruhigt, ist die Perspektive, dass Hunderte von Piloten und Luftpersonal ihre aktiven Reserveverpflichtungen aufkündigen", stellt "Yedioth Achronoth" zutreffend fest.

20.07.2023, Israel, Tel Aviv: Polizisten stehen vor Demonstranten während eines Protests gegen die israelische Regierung.
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Proteste gegen Justizreform in Israel

Armeechef lässt täglich durchzählen

Generalstabschef Herzi Halevi lasse mittlerweile täglich durchzählen, wie viele Reservisten ihren Dienst quittieren wollen. Die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Justizreform seien gefährlich. "Das spaltet die Armee", wie Halevi in vertraulicher Runde gesagt haben soll. Im Armee-Radio richtete Nadav Argaman, der ehemalige Chef des Shin Bet, des israelischen Inlandsgeheimdienstes, am Donnerstag eine volle publizistische Breitseite gegen Netanjahu: Der Generalstabschef und der jetzige Shin Bet Chef sollten dem Premierminister unmissverständlich klarmachen, die Justizreform sofort zu beenden. Netanjahu sei "nicht demokratisch gewählt worden, um Israelis Demokratie zu zerstören."

Er unterstütze ausdrücklich diejenigen Reservisten, die aus Protest gegen die Reform nicht mehr zum Dienst erschienen. Sollte, so der Ex-Shin Bet Chef, am Montag das "fürchterliche Gesetz verabschiedet werden, werden wir ein anderes Land haben. Insofern sind wir nicht mehr an die Verträge gebunden, die wir unterschrieben haben."

Im Video: Protest gegen die Justizreform in Israel (20.07.2023)

Seit Monaten gehen die Menschen in Israel wegen der Justizreform auf die Straße.
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Seit Monaten gehen die Menschen in Israel wegen der Justizreform auf die Straße.

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