Ein Mann hält in einer Einzelzelle seine Hand ans Fenster. (Symbolbild)
Bildrechte: pa/dpa/Felix Kästle

Immer mehr Islamisten kommen auf freien Fuß.

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Der schwere Ausstieg – Islamisten vor der Haftentlassung

Was passiert mit Islamisten, wenn sie aus der Haft entlassen werden? Eine drängende Frage. BR-Recherchen zeigen, dass seit 2022 immer mehr Islamisten auf freien Fuß kommen. Ein Ausstieg ist langwierig, wie auch ein in Bayern bekannter Fall beweist.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Das Interview mit dem BR in einer JVA in Nordrhein-Westfalen ist für den 42-jährigen Sadik (Name geändert) ein großer Schritt. Früher bedrohte er Journalisten. Jetzt sitzt er in einem kleinen kargen Besucherraum, eingerichtet mit einem Tisch und drei Stühlen. Bis zu seiner Verhaftung war er ein wichtiges Gesicht der Salafisten in Deutschland.

Sadik spricht über seine Vergangenheit, etwa über seine Eltern, die einst von Tunesien nach Nordrhein-Westfalen kamen. Der gelernte Bürokaufmann wurde in NRW geboren und ist dort aufgewachsen. Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Gemeinsam haben sie drei Kinder im schulpflichtigen Alter.

Sadik filmte Koran-Verteiler in Bayern

Schon 2010 knüpfte Sadik erste Kontakte zu salafistischen Predigern wie dem bundesweit bekannten Pierre Vogel.

Salafismus ist die dynamischte Bewegung innerhalb des Islamismus. Rund 12.000 Salafisten zählt das Bundesinnenministerium – ein Teil davon ist militant.

Vor ein paar Jahren unterstützte Sadik das deutschlandweite Koran-Verteilprojekt "Lies". Damals hatte die Terrorgruppe IS ein Kalifat ausgerufen, in Syrien tobte der Krieg. Meist junge Männer verteilten den Koran in deutschen Innenstädten, Sadik filmte sie für Werbevideos. So besuchte er immer wieder auch Koran-Verteiler in Bayern.

2016 verbot der damalige Innenminister Thomas de Maizière die "Lies-Aktion". Auch, weil sich laut Innenministerium etwa 140 Koran-Verteiler aus Deutschland islamistischen Terrorgruppen in Syrien und dem Irak angeschlossen hatten.

Sadik sagt, er sei immer entsetzt gewesen, wenn er von diesen Ausreisen erfahren habe.

Urteil: Propagandavideos und Terrorunterstützung

Laut Oberlandesgericht Düsseldorf sympathisierte Sadik mit der sogenannten Ahrar al-Sham, die in Syrien mit al-Qaida-nahen Gruppen kooperierte. Unter anderem wegen Unterstützung der Ahrar al-Sham verurteilte ihn 2020 das Gericht zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Er soll unter anderem Nachtsichtgeräte und Kampfschwerter im Wert von 80.000 Euro nach Syrien geliefert haben. Zudem habe er mehrere radikale Propagandavideos ins Internet gestellt, so das Gericht.

Trotzdem: Der Verurteilte sagt weiterhin, für Syrien habe er lediglich humanitäre Hilfe geleistet. Anders spricht er über den Vorwurf, Propaganda verbreitet zu haben: "Da bin ich hundertprozentig schuldig."

Immer mehr Personen mit Islamismusbezug auf freiem Fuß

Wie geläutert oder wie gefährlich ist Sadik noch? Eine wichtige Frage. Denn er hat inklusive U-Haft schon einen Großteil seiner Strafe abgesessen und könnte in gut einem Jahr freikommen. Vielleicht sogar schon früher. Sein Anwalt Serkan Anwalt hat vor kurzem die vorzeitige Entlassung beantragt.

Sadik ist längst nicht der Einzige. Das zeigt eine BR-Anfrage an alle Justizministerien der Länder. So wurden 2022 deutschlandweit mindestens 27 Häftlinge mit Bezug zum Islamismus entlassen, einige davon werden als terroristische Gefährder eingestuft. Weil manche Ministerien keine konkreten Angaben machen, ist davon auszugehen, dass die deutschlandweite Zahl der entlassenen Islamisten sogar noch höher liegt. In diesem Jahr kamen deutschlandweit mindestens schon 15 Häftlinge mit Islamismus-Bezug auf freien Fuß. Mit mindestens sechs weiteren Entlassungen wird gerechnet.

Umgang mit Radikalisierung im Gefängnis

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, hatte schon Ende 2021 in einem Interview mit der Funke Mediengruppe darauf hingewiesen, dass auch im Gefängnis "die Radikalisierung oft nicht nachlässt".

Auf Anfrage, was sich seitdem getan habe, antwortet der Verfassungsschutz, dass in den letzten Jahren die Zusammenarbeit zwischen Justiz, Polizei und Verfassungsschutzbehörden intensiviert worden sei. Ein Informationsaustausch zu inhaftierten Islamisten erfordere die Zusammenarbeit verschiedener Stellen auf Bundes- und Landesebene, so der Verfassungsschutz: "Insbesondere zu hoch priorisierten inhaftierten Islamisten erfolgt vor Haftentlassung ein erneuter Austausch, der fallabhängig noch weiter intensiviert werden kann."

Es geht etwa darum, ob Ex-Häftlingen ein Anschlag zugetraut wird oder ob sie ein Aussteigerprogramm durchlaufen.

Sadik durchläuft Aussteigerprogramm

Die Recherche zeigt, dass die Behörden bei Sadik die Chance sehen, dass er sich von seiner radikalen Vergangenheit lösen kann. Und sein Anwalt Serkan Alkan sagt, dass er seine "Hand für wenige ins Feuer legen würde, aber bei Sadik bin ich mir eigentlich relativ sicher, dass man ihn mit reinem Gewissen rauslassen könnte."

Wenn sein Mandant die Haft verlässt, wird das ein kompletter Neustart sein. Alkan berichtet, dass Sadik immer wieder seine Arbeitsstellen verloren habe. Bei Razzien sei die Polizei auch bei seinen Arbeitgebern aufgetaucht: "Dann kann man sich natürlich denken, dass die kein Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit hatten."

Im Gefängnis durchläuft Sadik das "Aussteigerprogramm Islamismus" (API). Das API ist im nordrhein-westfälischen Innenministerium angesiedelt. Für das Programm arbeiten Verfassungsschützer und Polizisten, ebenso Pädagogen oder Psychologen. Sadik sagt, dass er mit den API-Mitarbeitern seine Vergangenheit aufarbeitet: "Das ist halt sehr wichtig, dieses Aufarbeiten. Damit man das trainiert, damit man halt nicht wieder in dieses Loch fällt."

Sadik: Kontakt zu Salafisten abgebrochen

Es ist auch ein Kampf gegen Salafisten, die versuchen, Häftlinge in der Szene zu halten. Dafür gibt es Netzwerke, die zum Beispiel Briefe in die Gefängnisse schicken. Auch Sadik bekam immer wieder Post von dem verfassungsschutzbekannten Netzwerk "Free our sisters". Es seien Mutmacher-Briefe gewesen, berichtet der 42-Jährige. Und die "Geschwister" hätten 500 Euro für ihn gesammelt, um einen Teil der Gerichtskosten und Mahnungen zu begleichen.

Schließlich hätten ihm Mitarbeiter des Aussteigerprogramms gezeigt, dass sein Dankesbrief von den Salafisten im Internet veröffentlicht worden sei, erzählt Sadik. Er habe "Free our sisters" "einen Brief geschrieben, dass man das unterlassen soll". Dann sei der Kontakt abgebrochen.

Aussteigerprogramm: Rückfall ist möglich

Inzwischen gibt es seit einigen Jahren flächendeckend deutschlandweit Aussteigerprogramme für ehemalige Salafisten. Die Sicherheitsbehörden sind sehr vorsichtig, was die Bilanz dieser Arbeit betrifft. "Erfolg im Zusammenhang mit der Ausstiegsberatung ist schwer messbar. Manchmal kann sich auch Jahre nach der Beendigung einer Ausstiegsberatung ein Rückfall in alte Verhaltens- und Denkmuster ergeben", heißt es vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Dort ist das Aussteigerprogramm des Bundeslandes angesiedelt.

Andere Experten berichten, wie wichtig ein stabiles Umfeld ist, um den Weg zurück in ein geregeltes Leben zu finden, etwa Thomas Mücke von der Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network, die sich in Bayern im Auftrag des Freistaats um Salafisten-Aussteiger kümmert. Stabiles Umfeld bedeute etwa Arbeit, Freunde, Familie, so Mücke.

Bei Sadik sind die Kinder ein wichtiger Anker. "In den vier Jahren habe ich meine Tochter nur einmal umarmen dürfen", sagt er – und weint.

Er hofft, dass er nach seiner Freilassung die Kinder trotz der Trennung von seiner Frau wieder regelmäßig sehen kann. Dann dürfte er bei seinem Bruder unterkommen. Und er will sich eine Arbeit suchen. Denn Geld, sagt er, habe er immer verdient - auch zum Wohle seine Kinder.

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