Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank auf wenigen Quadratmetern in einer deutschen Gefängniszelle
Bildrechte: BR/Sylvia Bentele

Gefängniszelle von innen

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Suizidprävention in Gefängnissen: "Einfach nur verwahrt"

Wer im Gefängnis landet, für den ist die Situation belastend. Gleichzeitig leidet ein Großteil der Inhaftierten unter psychischen Störungen. Aber Haftanstalten fällt der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen schwer. Das zeigen BR-Recherchen.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Die Häufigkeit und Schwere psychischer Erkrankungen bei Häftlingen nimmt zu, schreibt das bayerische Justizministerium auf BR-Anfrage. Der Freistaat sieht sich zwar ausreichend aufgestellt mit Fachpersonal. Doch Suizide konnten auch bayerische Haftanstalten nicht vollständig verhindern. 2022 töteten sich 16 Häftlinge selbst, 2021 waren es 17.

  • Zum Artikel: "Klinik hinter Gittern - Zu Besuch in der forensischen Psychiatrie"

Ein Beispiel aus der JVA Aichach: Hier hat sich im Mai 2021 die 32-jährige Valdete M. suizidiert. Fast fünf Monate hatte sie in U-Haft gesessen, als mutmaßliche Terrorunterstützerin. Sie soll 2018 insgesamt 460 Euro an eine Al-Kaida-nahe Organisation in Syrien gespendet haben.

U-Haft belastend

Seine Mandantin sei ein kleiner Fisch gewesen, sagt Anwalt Adam Ahmed. Die Unterstützungshandlung von insgesamt 460 Euro sei "mehr als überschaubar“ gewesen, so Ahmed. "Infolgedessen haben wir uns auch von Anfang an gegen die Festnahme und auch gegen die Untersuchungshaft mit den rechtlichen Möglichkeiten, die es in der Strafprozessordnung gibt, zur Wehr gesetzt."

Ahmed wirkt wütend. Er wirft der Anstalt vor, dass sie nicht gut genug auf Valdete M. aufgepasst hat. Aus ihrem Umfeld erfährt der BR, dass sie schon vor ihrer Haft psychische Probleme hatte.

Häftlinge oft psychisch krank

Das Justizministerium stellt auf Anfrage klar, dass alles getan wird, um Suizide zu verhindern. Schon beim Eintreffen der Häftlinge in der Anstalt werde überprüft, ob Suizidgefahr bestünde.

Trotzdem sehen Fachleute erheblichen Nachholbedarf. Prof. Dr. Johannes Fuß war fünf Jahre lang Gefängnispsychiater. Jetzt leitet er das Institut für forensische Psychiatrie und Sexualforschung am LVR-Uniklinikum Essen. Fuß beruft sich auf Studien, die belegen, dass 86 Prozent der Gefängnis-Insassen schon einmal eine psychiatrische Erkrankung hatten. Aber in deutschen Gefängnissen sei das noch nicht angekommen, kritisiert Fuß. Das habe Folgen für die psychisch kranken Menschen. Sie würden "nur verwahrt und manchmal über Monate ihrer Erkrankung überlassen".

Studie des Europarats

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine deutschlandweite Untersuchung des Europarats. Mitglieder des sogenannten Anti-Folter-Komitees besuchten 18 Einrichtungen in Deutschland – auch in Bayern. Darunter waren Haftanstalten und forensische Einrichtungen. Die Ergebnisse wurden im Herbst 2022 veröffentlicht. Ein Kritikpunkt: Es sei oft nicht möglich, Insassen von einem normalen Gefängnis in geeignete psychiatrische Einrichtungen zu verlegen.

Oft nur externe Psychiater verfügbar

Die Folge kennt auch Psychiatrie-Professor Johannes Fuß aus seiner Tätigkeit als Gefängnispsychiater: Wer suizidgefährdet sei, werde häufig in speziellen Räumen isoliert und per Video überwacht. "Da gibt's nicht mal mehr einen Tisch im Raum, nur noch eine Turnmatte und eine Decke", beschreibt Fuß die Ausstattung der entsprechenden Räume, "da geht's einem nicht unmittelbar besser".

Oft müssten Haftanstalten bei Suizidgefahr auf externe Psychiater zurückgreifen, so Fuß. Manche seien erst nach Tagen verfügbar.

Lösung durch Telemedizin?

Die Länder haben das Problem, psychiatrisches Fachpersonal zu finden. So versuchen unter anderem Bayern und Nordrhein-Westfalen, therapeutische Lücken mit Hilfe externer Dienstleister zu schließen, die Häftlinge per Video psychiatrisch behandeln. Kritik kommt von Johannes Fuß. Menschen, die etwa an einer Psychose, an Wahnvorstellungen litten, bräuchten kein Tablet in die Hand gedrückt, um mit einem Psychiater zu sprechen, der gerade in seiner eigenen Praxis sitze. "So verzweifelt ist die Lage im Moment, dass man das schon als Lösung an manchen Orten feiert. Das bringt uns keine Lösung hinsichtlich der schwer erkrankten Menschen. Die brauchen vor Ort Personal, das mit ihnen sprechen kann."

Nach Suizidversuch in Einzelzelle

Valdete M. wurde nach einem Suizidversuch in die vollzugspsychiatrische Abteilung der JVA Würzburg verlegt: Mehr als zwei Wochen später kam sie zurück in die U-Haft nach Aichach. Diagnose: "ohne auffälligen Befund". Auch führte sie mit dem Psychologen der Anstalt in Aichach ein Gespräch. Dieser stufte sie als einzelhaftfähig ein. Anwalt Ahmed hat dafür kein Verständnis. Es erschließe sich ihm nicht, "warum jemand, der ganz aktuell als so hoch suizidgefährdet eingestuft wurde, warum man die Person dann so unbeobachtet in einen Raum steckt". Außerdem seien seiner Mandantin aufmunternde Briefe "aus denen hervorgeht, dass ich entsprechende Anträge gestellt und für meine Mandantin kämpfe" nicht zugestellt, sondern ungeöffnet an ihn zurückgeschickt worden, sagt der Anwalt. Die JVA Aichach bestreitet dies.

Am Ende hinterließ Valdete M. einen Brief, den sie einer Mitgefangenen übergab und der sich später als Abschiedsbrief herausstellte. Auch weil sie kein Vertrauen zu den Gefängnismitarbeitern hatte?

Die JVA Aichach betont, dass die Angestellten regelmäßig fortgebildet und sensibilisiert würden, um Suizide zu verhindern. Nach Angaben des Justizministeriums waren zum Stichtag 31. Dezember 2021 bayernweit 124 Psychologinnen und Psychologen in Haftanstalten beschäftigt. Hinzu kommen 45 Ärzte. Der Freistaat hat mit Straubing und Würzburg zwei Justizvollzugsanstalten, in denen sich psychiatrische Abteilungen befinden. Eine Dritte soll in der JVA München entstehen.

Gefängnispsychiater dringend gesucht

124 Psychologen und 45 Ärzte in bayerischen Gefängnissen bei mehr als 9.000 Insassen – reicht das? Das Ministerium räumt ein, dass der Fachkräftemangel auch vor den Anstalten nicht Halt mache und es dementsprechend schwierig sei, geeignete Psychiater zu finden.

Wolle man mehr Fachkräfte, müssten sie viel besser bezahlt werden, sagt Psychiater Fuß. Und es gehe auch darum, den Resozialisierungsgedanken in den Vordergrund zu rücken. Denn bei schwer psychisch Erkrankten klappe auch die Resozialisierung nicht: "Wir müssen uns als Erstes um die psychische Gesundheit kümmern, investieren am Anfang in Aufnahmegespräche und investieren am Anfang auch in engmaschige Therapie, wenn sie notwendig ist. Das ist aber aktuell nicht der Fall. Das wird meines Wissens in keiner Anstalt in Deutschland so gedacht."

Und so hätten die Bundesländer noch einen weiten Weg vor sich, wenn sie den Umgang mit psychisch Erkrankten im Gefängnis verbessern wollen, findet Fuß.

Der Bayerische Rundfunk berichtet - vor allem wegen möglicher Nachahmer-Effekte - in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer die zuständige Redaktion sieht es durch die Umstände der Tat geboten. Sollten Sie selbst Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend den Bayerischen Krisendienst unter der Notrufnummer 0800-6553000 oder die Telefonseelsorge unter Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222. Weitere Hilfsangebote gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

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