Kreativ- und Begegnungsort "Villibald"
Bildrechte: Paul Quednau

Multimediales Erinnerungsprojekt in einer Stadtvilla in Nürnberg

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Zwei Frauen, eine Villa: Mit dem Handy NS-Geschichte erleben

Maria Pfeiffer und Niklas Kammermeier vom Künstlerkollektiv LOCI haben für ein multimediales Erinnerungsprojekt intensiv in den Biografien zweier Frauen recherchiert. Beide wohnten in einer Stadtvilla in Nürnberger Norden.

Über dieses Thema berichtet: Frankenschau am .

Leuchtend gelb steht sie da, die über 100 Jahre alte Jugendstilvilla in der Nürnberger Nordstadt. Viele Villen und Wohnhäuser des gehobenen Bürgertums wurden in diesem Stadtteil nach 1890 errichtet. Während draußen die Autos und Fußgänger hastig vorbeiziehen, dominiert im Inneren des Gebäudes völlige Stille. Mit Kopfhörern und Smartphones schreiten Menschen durch die Räume, scannen QR-Codes, öffnen Schubladen mit Erinnerungsfotos und tauchen ein in "das Haus der Frau L".

Mit Smartphone und Kopfhörer

Bis 1938 wohnte hier die Jüdin Emilie Löb mit ihrer Familie. Ab 1955 diente die Villa Gabriele Lehmann als Anwalts-Kanzlei. Die Frauen sind sich nie begegnet, doch beide Leben wurden stark durch das Gebäude und die NS-Zeit geprägt. Zwei Jahre haben Maria Pfeiffer und Niklas Kammermeier vom Künstlerkollektiv LOCI umfassend in den Biografien der beiden Frauen recherchiert und daraus einen Audio- und Videowalk konzipiert.

Multimediale Detektivarbeit

Wie eine Schnitzeljagd werden Besucherinnen und Besucher durch das ehemalige Wohngebäude, das heute als Kultur- und Begegnungsort "Villibald" bekannt ist, geführt. Durch Gespräche mit Zeitzeugen und Experten geben die Theatermacher tiefe und persönliche Einblicke in die Lebensgeschichten von Emilie Löb und Gabriele Lehmann.

"Wo treffen sich diese beiden Geschichten? Wo gehen sie wieder auseinander? Das ist eine wahnsinnig spannende detektivische Arbeit und gleichzeitig geht es dabei immer um menschliche Abgründe, die teilweise unfassbar sind, was Menschen anderen Menschen antun können." Niklas Kammermeier, Theatermacher und Medienwissenschaftler

Die Villa wird zum Tatort

So wurde die Stadtvilla in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zu einem Schauplatz grausamer NS-Vergangenheit. In ganz Deutschland eskaliert in jener Nacht der Juden-Hass und auch das Wohngebäude in der Pirckheimerstraße wird nicht verschont: "Was die eben wie in vielen anderen Häusern auch gemacht haben. Alles zertrümmert, alles zerschlagen, alle Wasserhähne aufgedreht, dass das Wasser überall hinläuft. Sie haben Marmelade ins Bett gekippt, also irgendwie auch so Dinge, wo man sich immer fragt, warum überhaupt? Warum diese Zerstörungswut?", so Maria Pfeiffer.

Erzählungen nach soll sich der Ehemann von Emilie Löb seine Wehrmachtsuniform angezogen haben, um den Nazis zu zeigen, dass er für Deutschland gekämpft hatte. Doch die Nazis treiben ihn auf den Balkon der Villa und stürzen Simon Löb über das Geländer. Er stirbt. Auch Emilies Söhne kommen später in Konzentrationslagern ums Leben. Nur ihr gelingt die Flucht nach Frankreich.

Nürnbergs erste Richterin

1945 finden im Saal 600 die Nürnberger Prozesse statt. Als eine der wenigen Juristinnen sitzt Gabriele Lehmann im Gericht unter ihren vielen männlichen Kollegen und verteidigt Nazi-Verbrecher. Maria Pfeiffer und Niklas Kammermeier fanden Dokumente ihrer Ausbildung während der NS-Zeit, Briefwechsel mit NS-Kriegsverbrechern und eine Haushälterin, die sich heute noch sehr lebendig an Gabriele Lehmann erinnert. Gabriele Lehmann und ihre Familie sollen selbst stark die Repression der Nazis zu spüren bekommen haben. Ein Grund, weshalb die junge Frau eigentlich Anwältin werden wollte. Später machte sie sich als knallharte Strafverteidigerin und "Ganoven-Gabi" einen Namen. Bis 2004 arbeitete Gabriele Lehmann in der Villa. In ihrer Kanzlei ging der ehemalige Ministerpräsident und Jurist Günther Beckstein (CSU) in die Lehre.

Kreativort für Kunst und Kultur

Fast zehn Jahre stand das ehemalige Wohngebäude leer, bis der heutige Eigentümer Claus Peteranderl und die Kultur- und Eventmanagerin Simira Tang es wieder für die breite Öffentlichkeit zugänglich machen wollten. Die Idee: ein Kreativ- und Begegnungsort mit dem Namen "Villibald". Im Zuge der Restaurierung sei auch ein Ziel gewesen, die Geschichte des Hauses aufzuarbeiten, macht Simira Tang deutlich.

Durch einen glücklichen Zufall sei sie Maria Pfeiffer und Niklas Kammermeier begegnet, die auf das Erleben von historischen Orten spezialisiert sind. Nun können Besucherinnen und Besucher wie bei einer Schnitzeljagd durch die Räume des ehemaligen Wohngebäudes laufen und in die Lebensgeschichten von Emilie Löb und Gabriele Lehmann eintauchen. Das multimediale Erinnerungsprojekt wird von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische-Zusammenarbeit in Franken und der Stadt Nürnberg gefördert und feiert am 8. März 2024 Premiere.

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