Schlagstockeinsatz bei Demonstrationen gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf im Oktober 1987.
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Von Wackersdorf bis zum Stachus: Präventivhaft in Bayern

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Von Wackersdorf bis zum Stachus: Präventivhaft in Bayern

Die Diskussion um 30 Tage Präventivhaft für Klimaaktivisten in München geht weiter. Ein Vorsorge-Gewahrsam zur Gefahrenabwehr war früher für maximal zwei Tage möglich. Bis die Krawalle von Wackersdorf kamen. Die Geschichte einer Rechtsverschärfung.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

30 Tage Polizei-Gewahrsam für zwölf Klima-Protestierer: Über diese Maximal-Maßnahme nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG) wird heftig diskutiert. Denn mit ihr will die Polizei weitere Festklebe-Aktionen auf belebten Straßen durch dieselben Personen verhindern und neue Aktivisten abschrecken. Ist das verhältnismäßig? Ein Blick in die Entwicklung dieser Rechtsvorschrift.

Verlängerung auf 14 Tage

Steine und Stahlkugeln gegen Polizisten, Wasserwerfer mit Reizgas sowie Gummigeschosse gegen Demonstranten: Die Eskalation an der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf schockierte in späten 80er Jahren die ganze Republik.

Die Bayerische Staatsregierung reagierte mit einer Verschärfung des Polizeiaufgabengesetzes: Konnten die Beamten zur Gefahrenabwehr bis 1989 Menschen nur für maximal zwei Tage in Präventiv-Gewahrsam nehmen, wurde diese Frist gegen den Willen der Opposition auf maximal 14 Tage ausgedehnt. Das Ziel: Einen erkennbar potenziellen Straftäter daran zu hindern, die Taten auch wirklich zu begehen. Denn manche Krawallmacher kamen laut Polizei immer wieder zum Wackersdorfer Bauzaun, selbst wenn sie zwei Tage zuvor in Gewahrsam saßen.

Kritiker sehen "Lex Wackersdorf"

Von einer "Lex Wackersdorf" sprach die Opposition. Sie hielt die 48-Stunden-Regel im Polizeirecht für ausreichend. Für erwiesene Gewalttäter sei das Strafrecht da, wonach auch – zum Beispiel wegen Flucht- oder Verdunkelungsgefahr – vorsorglich Haft angeordnet werden könne (Untersuchungshaft).

Anders das Polizeirecht, das zur Gefahrenabwehr auch beim bloßen Verdacht auf eine bevorstehende Straftat (nicht nur Körperverletzung oder Landfriedenbruch) einen Unterbindungsgewahrsam ermöglicht. Dauert er länger als bis zum nächsten Tag, muss ihn ein Richter anordnen.

Später schraubten auch die anderen Bundesländer in ihren Polizeigesetzen den vorsorglichen Freiheitsentzug nach oben: auf maximal vier bis zu 14 Tagen. Stets geknüpft an die Verhältnismäßigkeit dieser harten Maßnahme, beurteilt von einem Richter.

Bayerns damaliger Innenminister Edmund Stoiber, CSU, widersprach dem Vorwurf einer "Lex Wackersdorf". Die Ausweitung auf 14 Tage sei beispielsweise auch begründet durch rechtsextreme Umtriebe, die der Verfassungsschutz zum 100. Geburtstag von Adolf Hitler 1989 unter anderem in Wunsiedel befürchtete.

Wegen Terrorgefahr weiter ausgedehnt

2017 waren der Staatsregierung aber auch die 14 Tage noch zu wenig: Vor dem Hintergrund drohender terroristischer Gefahren vor allem aus dem Islamismus dehnte sie mit ihrer Landtagsmehrheit die Präventivhaft auf maximal drei Monate aus, die per Gerichtsbeschluss unendlich verlängerbar waren. Nach heftiger Kritik stutzte sie die Höchstdauer 2021 wieder zurück auf einen Monat, der maximal – nach erneuter richterlicher Begutachtung – um einen weiteren Monat verlängert werden kann. Damit hat Bayern das schärfste Polizeigesetz aller Bundesländer.

Die 30 Tage wurden nun erstmals gegen Klima-Demonstranten verhängt, die sich auf dem Münchner Altstadtring festgeklebt und für ein stundenlanges Verkehrschaos gesorgt hatten. Zuvor waren einzelne Blockierer nur tageweise festgehalten worden.

Staatskanzleichef: Präventivhaft stärkt Rechtsstaat

Begründung der Münchner Polizei für die 30 Tage: Die betroffenen zwölf Personen hätten an diesem Tag zweimal den Verkehr durch Festkleben blockiert. Sie würden wegen Verdachts auf Nötigung im Straßenverkehr (Straftat) sowie Verstößen gegen das Versammlungsgesetz (Ordnungswidrigkeit) angezeigt. Die vom Gesetz geforderte erhebliche Bedeutung der Verstöße für die Allgemeinheit begründet die Polizei so: "Die Folgen von Blockadeaktionen für die Sicherheit der Bevölkerung sind nicht kalkulierbar."

  • Zum Artikel: Staatsregierung verteidigt 30-Tage-Haft für Klima-Aktivisten

Weitere Aktionen der Blockierer waren angekündigt. Rechtfertigt aber diese Wiederholungsgefahr die 30 Tage vorsorglichen Freiheitsentzug? Eindeutig ja, sagt Staatskanzleichef Florian Herrmann, CSU: Der Staat dürfe nicht einfach zuschauen, "wenn Straftaten angekündigt werden oder wenn die Wiederholungsgefahr offenkundig ist". Wenn erst was passieren müsse, bevor der Polizei einschreite, würde "das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat natürlich Schaden nehmen".

Sicherheitsrechtler: Präventivhaft wegen Blockade schwächt Rechtsstaat

Passiert ist Anfang November am Münchner Stachus eine mögliche Nötigung der Verkehrsteilnehmer, die wegen der Blockade im Stau festsaßen. Dass man deswegen schon das große Kaliber "präventiver Freiheitsentzug" anwende, würde das Vertrauen in den Rechtsstaat aber ebenfalls aushöhlen, sagt der Sicherheitsrechtler Prof. Markus Löffelmann: "Verfassungsrechtlich sind Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht eben nicht zur Verhinderung jeder Straftat geeignet, sondern nur, wenn es um den Schutz hochwertiger Rechtsgüter geht und wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt beachtet wird."

Das ist aber für den langjährigen Münchner Richter Löffelmann, der heute an der Hochschule des Bundes in Berlin lehrt, beim Nötigungsparagraphen nicht gegeben. Denn die Rechtspraxis zeige: In den Strafverfahren, die nach solchen Straßenblockaden folgten, "werden in der Regel keine Freiheitsstrafen rauskommen. Nichtsdestotrotz sperrt man die Leute präventiv ein. Also das ist ein Widerspruch, der illustriert, das jedenfalls in dieser Dauer die präventive Gewahrsamnahme nach meiner Einschätzung nicht verhältnismäßig ist." Die Staatsregierung hält die Blockaden indes für einen gefährlichen Rechtsbruch, der entsprechende Vorbeuge-Maßnahmen rechtfertige.

Löffelmann: Unverhältnismäßig auch bei Corona-Verstößen

Markus Löffelmann hält schon manchen Präventiv-Gewahrsam bei Corona-Verstößen für zu hoch. So hatte ein Bamberger Richter einen Mann nach wiederholten Corona-Partys und festgestellter Unbelehrbarkeit mit 17 Tagen Freiheitsentzug belegt: "Auch hier würde ich Probleme bei der Verhältnismäßigkeit sehen und auch die Gefahr einer Erosion des Vertrauens in den Rechtsstaat, der Personen, wenn sie sich nicht so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird, gleich mit diesem schärfsten Mittel belegt und in Gewahrsam nimmt", sagt Löffelmann dem BR.

Richtervorbehalt praxistauglich?

Dass spätestens am Folgetag einer Präventivhaft durch die Polizei ein Gericht über die Verlängerung entscheiden muss, hält Staatkanzleichef Herrmann für ausreichend. Er vertraue auf die Praxis-Erfahrung und das "sehr gute Gespür" der Richter, "in welcher Situation die Haftanordnung verhältnismäßig und richtig ist und wo nicht".

Der Publizist Karl Stankiewitz wandte schon 2018 in der Bayerischen Staatszeitung zum Unterbindungsgewahrsam ein, "dass der Einzelrichter bei starkem Anfall von ‚Störern‘ kaum genügend Zeit haben dürfte, Beweise zu prüfen, dass es zu einer Überschwemmung der kleinen Gerichte kommen könnte."

Klage vor Verfassungsgerichtshof

Gegen die Präventivhaftdauer haben Jurastudentinnen und –studenten vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof geklagt. Ebenso Bayerns Grüne, SPD und Jusos, die noch weitere Bestimmungen im bayerischen Polizeiaufgabengesetz für verfassungswidrig halten. Auch das Bundesverfassungsgericht muss sich mit einer Normenkontrollklage beschäftigen. Ausgang offen.

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