Prozess um mutmaßliche IS-Anhängerin aus Unterfranken
Bildrechte: BR / Florian Schwegler

Prozess um mutmaßliche IS-Anhängerin aus Unterfranken

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Urteil gegen IS-Rückkehrerin aus Unterfranken erwartet

Mehrere Monate musste eine mutmaßliche IS-Rückkehrerin aus dem Raum Aschaffenburg in einem kurdischen Gefangenenlager ausharren. Laut Anwältin unter unmenschlichen Bedingungen. Das könnte sich nun auf das heute erwartete Urteil auswirken.

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten aus Mainfranken am .

Auch während ihrer radikalsten Zeit soll die mutmaßliche IS-Rückkehrerin und gelernte Altenpflegerin Sibel H. aus dem Raum Aschaffenburg ein Kumpeltyp gewesen sein. Als vor einigen Wochen eine langjährige Freundin und Weggefährtin vor dem Oberlandesgericht München aussagte, beschrieb sie die 33-Jährige mit den Worten: "Sie spricht schon assi, aber mit Herz."

Die Freundin schilderte, wie sie selbst zum Islam konvertiert sei, um wegzukommen von ihrem Image als Partymaus und "laufende Wodkaflasche". Mit Sibel sei sie in Moscheen gegangen, im Auto hätten sie religiöse Gesänge gehört. Streng religiös jedoch, sagte die Freundin der Angeklagten, sei weder sie noch Sibel gewesen. In den eigenen vier Wänden hätten sie Hiphop aufgelegt und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Problem nur: Zu diesem Zeitpunkt hatte Sibel H. laut Anklage ihre erste Ausreise in den sogenannten Dschihad nach Syrien schon hinter sich - von Oktober 2013 bis Januar 2014.

Ihr erster Ehemann Ali S., mit dem sie ausreiste, kam nach Erkenntnissen der Ermittler ums Leben. Einer, der Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Video mit einer Waffe in der Hand drohte: "Merkel, du bist die Nächste." Das Video wurde auf dem Handy von Sibel H. gefunden - nach ihrer Rückkehr aus dem Kriegsgebiet. So harmlos und naiv, davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt, war die 33-Jährige nicht.

Anwältin: Unmenschliche Bedingungen in Gefangenenlager

Mensch mit Herz und Assi-Wortwahl, zweifache Mutter, aber auch eine mutmaßliche Terrorhelferin: Zweimal soll Sibel H. nach Syrien und Irak zur Terrormiliz IS gereist sein. Seit Ende Februar muss sie sich vor dem Oberlandesgericht verantworten. Heute wird das Urteil erwartet. Dabei könnte Sibel H. zugute kommen, dass sie seit August 2017 in einem kurdischen Gefangenenlager verbringen musste. Verteidigerin Seda Basay-Yildiz beschrieb die Bedingungen in dem Lager in ihrem Plädoyer vergangene Woche: verstopfte Toiletten, kein Toilettenpapier, um Windeln musste man kämpfen. Unter diesen unhygienischen Umständen brachte Sibel H. eines ihrer Kinder auf die Welt. "Sie war nur zwei Stunden im Krankenhaus, wurde ohne Narkose genäht", schilderte Anwältin Basay-Yildiz.

Wie die Haftzeit angerechnet werden kann

Aus Sicht der Anwältin sollte ein Tag Lagerhaft wie drei Tage Haft in Deutschland gelten. Würde das Gericht diese Forderung akzeptieren, hätte die Angeklagte einen Großteil der Strafe bereits abgesessen. Es wäre fraglich, ob sie überhaupt noch einmal ins Gefängnis müsste. Hintergrund ist die sogenannte "Anrechnung von im Ausland erlittener Haft" nach Paragraf 51 des Strafgesetzbuches. Danach werden Aufenthalte in einem ausländischen Gefängnis wegen schlechterer Bedingungen als hierzulande mit einem Faktor bemessen und bei einer Haftstrafe in Deutschland angerechnet. Im Fall einer IS-Rückkehrerin aus Baden-Württemberg kam dieser Paragraf bereits zur Anwendung. Sie befindet sich unter Auflagen inzwischen in Freiheit.

Wohnen beim IS ein Kriegsverbrechen?

Auch die Angeklagte Sibel H. ist auf freiem Fuß. Zwar lag im August 2019 ein Haftbefehl vor, dieser wurde aber außer Vollzug gesetzt. Die deutschen Behörden sehen keine Fluchtgefahr. Anwältin Basay-Yildiz will, dass der Haftbefehl aufgehoben wird. Sie kritisierte zudem, dass Sibel H. ein Kriegsverbrechen angelastet wird. Laut Bundesanwaltschaft lebte die Angeklagte gemeinsam mit ihrem Ehemann in einer Wohnung und zwei Häusern, die vom IS verwaltet wurden. In der Anklage gegen die 33-Jährige heißt es, die rechtmäßigen Bewohner der Immobilien seien vor der Terrororganisation geflüchtet. Für die Bundesanwaltschaft ist das Aneignung und damit ein Kriegsverbrechen, das im Völkerstrafgesetzbuch unter Strafe steht. Anwälte, die derartige Fälle betreuen, bemängeln, dass Frauen bei Terrororganisationen wie dem IS kaum Rechte haben und damit nicht selbstbestimmt entscheiden können.

Bundesanwaltschaft: Waffenbesitz nachgewiesen

Die Bundesanwaltschaft fordert dreieinhalb Jahre Freiheitsstrafe – unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Nach Erkenntnissen der Ermittler hat sich Sibel H. seit 2009 radikalisiert und Veranstaltungen des Salafisten-Predigers Pierre Vogel besucht. Sie sei konvertiert und schließlich 2013 erstmals nach Syrien ausgereist. Sie sei zwar zwischenzeitlich wieder nach Deutschland gekommen, habe sich 2016 aber bewusst dazu entschieden, sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Auch der Besitz von Waffen sei eindeutig von Bildern und Videos bewiesen worden. Laut Bundesanwaltschaft konnte allerdings nicht nachgewiesen werden, ob Sibel H. die Waffen wirklich selbst in der Hand hatte.

Vor Ausreise Kontakte in die Salafisten-Szene nach Hessen

Einst knüpfte Sibel H. Kontakte ins nahegelegene Hessen. Dorthin, wo sich einer der größten Hotspots der deutschen Salafisten-Szene befindet - in Frankfurt am Main und Offenbach. In diesen Kreisen lernte sie auch ihre beiden Ehemänner kennen, mit denen sie den Ermittlungen zufolge jeweils nach Syrien und den Irak ausreiste. Ihr zweiter Ehemann Deniz B. sitzt aktuell in einem kurdischen Gefangenenlager fest. Wann er zurück nach Deutschland kommt, ist aktuell unklar. Er ist der Vater der beiden gemeinsamen Kinder, die im Kriegsgebiet geboren wurden.

Die Bundesanwaltschaft merkte vergangene Woche kritisch an, dass Sibel H. sich zu Deniz B. sehr defensiv geäußert habe. Bis zuletzt habe Sibel H. behauptet, ihr Ehemann habe während der Zeit beim IS nur als Krankenpfleger gearbeitet. Videos, die Deniz B. mit Waffe zeigen sollen, lassen die Ermittler aber daran zweifeln.

Angeklagte durchläuft Aussteigerprogramm

Positiv wertet die Bundesanwaltschaft, dass die Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat. Jedoch habe die 33-Jährige versucht, ihre Beteiligung klein zu reden. Seit April 2018 ist die Angeklagte wieder in Deutschland - gemeinsam mit ihren beiden kleinen Kindern.

Sibel H. durchläuft inzwischen ein Aussteigerprogramm. Ihre Kontakte zur Szene habe sie komplett abgebrochen, berichtete Basay-Yildiz über die gelernte Altenpflegerin. Sibel H. selbst sagte über sich während des Verfahrens: "Ich wollte eigentlich immer diejenige sein, die über den Tellerrand schaut, diejenige, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpft."

"Darüber spricht Bayern": Der neue BR24-Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!