Der Kinderchor auf einem Schiff
Bildrechte: Tetiana Vysokolian

Der ukrainische Kinderchor

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Ukrainischer Kinderchor in Kochel: Singen gegen Kriegstrauma

Im oberbayerischen Kochel am See begeistert ein ukrainischer Kinderchor die Zuhörer. Die kleinen Sängerinnen und ihre Chorleiterin sind vor dem Krieg in ihrer Heimat Ukraine geflüchtet. Singen hilft gegen ihre Trauer und erleichtert die Integration.

Über dieses Thema berichtet: EUROBLICK am .

Dreimal in der Woche wird es ganz schön eng in der kleinen Wohnung von Tetiana Vysokolian. Zwölf ukrainische Flüchtlingskinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren proben eifrig Lieder aus der Heimat mit ihr, üben Atemtechnik und Konzentration. "Ich habe den ukrainischen Müttern hier vorgeschlagen, die Kinder mit etwas zu beschäftigen, das sie von dem ablenkt, was sie durchmachen mussten," sagt Vysokolian. "Und Singen schenkt ihnen Freude."

Singen gegen Sirenen und Panikattacken

Die ausgebildete Musiklehrerin musste selbst aus Kiew fliehen. Raketenangriffe und ständiger Sirenenalarm lösten Panikattacken bei ihrer fünfjährigen Tochter Ludmila aus. Erschöpft nach mehreren Tagen der Flucht kamen sie mit der kranken Schwiegermutter in Kochel am See an.

Vysokolian begann, mit der kleinen Ludmila zu singen, um sie zu beruhigen. Bald lud sie noch weitere ukrainische Kinder zum Mitsingen ein und gründete im März den kleinen Chor. Die Kinder, die aus Kiew, Lugansk, Cherson, Mariupol und Odessa stammen, waren gleich begeistert mit dabei.

Singen spendet Trost und festigt den Zusammenhalt

Die Kinder spüren den Kummer bei den Erwachsenen. Alle machen sich Sorgen um die in der Ukraine gebliebenen Ehemänner, Väter und Verwandten. Singen spendet ihnen Trost, hilft dabei, Trauer und Sorgen zu überwinden und festigt den Zusammenhalt unter den Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine. Der Krieg und der Verlust ihrer Heimat hinterließen bei den Müttern tiefe seelische Wunden. Wenn ihre Kinder im Chor Lieder aus der Heimat singen, sind sie zu Tränen gerührt.

"Die Lieder drücken unseren Willen aus, unser Land wiederaufzubauen, in die Heimat zurückzukehren und sie aus den Ruinen wieder auferstehen zu lassen!", erklärt Olena Naietzska, die aus Odessa mit ihren Zwillingstöchtern Anna und Elina geflüchtet ist. Beide schmiegen sich an ihre traurige Mutter, um sie zu trösten.

Verwandte in Butscha wurden im Krieg getötet

Der Krieg vernichtet Städte, trennt Familien, zerstört Menschenleben. Iryna Sukhomlinova floh mit ihren beiden Kindern, der Oma und der Schwiegermutter aus Kiew. Doch ihre Verwandten, ein älteres Ehepaar, blieben in der Heimat, in Butscha nahe Kiew. Kurz darauf wurde der Vorort von russischen Truppen besetzt.

"Im März war es kalt. Meine Verwandten fuhren mit dem Auto in einen Wald, um etwas Holz zum Heizen zu holen," erzählt Sukhomlinova. "Aber sie kehrten nicht mehr zurück. Ihr Auto wurde beschossen. Ihre Leichen lagen wochenlang im Wald und durften nicht abgeholt werden. Erst im April, nach der Befreiung von Butscha durch ukrainische Truppen, konnten sie geborgen und beerdigt werden."

Das Ringen um Normalität im Ausnahmezustand

Iryna Sukhomlinova ringt um Fassung. Trotz dieses Traumas bemüht sie sich, für ihre Kinder ein Stück Normalität aufrecht zu erhalten. Jeden Abend telefoniert die neunjährige Tochter Anja mit ihrem Papa, um zu wissen, wie es ihm geht und ob ihre Katze und die Goldfische, die in Kiew geblieben sind, wohlauf sind.

Manchmal liest ihr der Papa sogar Gute-Nacht-Geschichten am Telefon vor. Für Anja sind das Glücksmomente. Am allerliebsten würde sie mit dem Papa kuscheln, aber das ist nicht möglich. Als Wehrpflichtiger darf er die Ukraine nicht verlassen.

Integration im Unterricht in der Grundschule in Kochel

Aber für die Familie geht das Leben weiter. Vier Mal die Woche sitzt Anja im Online-Fernunterricht ihrer ukrainischen Schule. Und schon vor den Sommerferien besuchte die Drittklässlerin noch zusätzlich den Präsenzunterricht in der Franz Marc Grundschule in Kochel am See.

Mit dabei sind auch Rita aus Mariupol und Arina aus der Ostukraine. Im Malunterricht sollen die Kinder ein Bild von Wassily Kandinsky kreativ ergänzen. Es ist für die kleinen Ukrainerinnen nicht immer leicht, Deutsch zu verstehen. Doch sie würden sich sehr bemühen und fleißig mitmachen, lobt ihr Lehrer Dr. Jakob Dondl, der auch der Leiter der Franz Marc Grundschule ist.

"Sie sind seit drei Wochen bei uns in der Klasse integriert und man merkt, dass es für sie etwas Neues ist, dass wir so viele freie Arbeitsformen haben", sagt Dondl. "Aber ich merke, dass sie immer selbstbewusster werden, dass sie immer mehr Kontakt zu den deutschen Kindern aufbauen."

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Mehr Selbstvertrauen durch Singen im Chor

Dass die ukrainischen Kinder aus Kochel sich in der Schule mehr zutrauen, liege auch an ihren Auftritten mit dem Chor, meinen ihre Mütter und sind Tetiana Vysokolian für ihr Engagement überaus dankbar. Seit dem ersten Treffen Mitte März hat der Chor große Fortschritte gemacht.

Auftritt beim Schulfest in Tracht: "Mannigfaltigkeit der Kulturen"

Wochenlang probten die Kinder für ihren Auftritt beim Schulfest. Mit der Vorfreude wuchs das Lampenfieber, auch bei der Chorleiterin. Anfang Juli war es endlich soweit: Unter dem Motto: "Mannigfaltigkeit der Kulturen" versammelten sich zahlreiche Eltern und Schulkinder aus Kochel im Schulhof der Franz Marc Grundschule – viele in Dirndl und Lederhosen.

Ebenfalls in farbenfroher Tracht: der ukrainische Chor, und zwar in traditioneller ukrainischer Kleidung. Eine Bekannte von Tetiana Vysokolian hatte die Outfits eigens aus Kiew mitgebracht, damit der Chor die Kultur der Ukraine authentisch präsentieren kann.

Ukrainisches Volkslied wird zur Hymne gegen den Krieg

Für das Schulfest hatten sie ein ganz besonderes Lied ausgesucht: Das ukrainische Volkslied "Oh du Roter Schneeball", das inzwischen zu einer Hymne gegen den Krieg geworden ist. Ihr Auftritt im Schulhof wurde bejubelt. "Voll schön" fand auch die kleine Theresa die Lieder ihrer Mitschülerinnen aus der Ukraine. Und die waren glücklich über ihren Erfolg und genossen es, im Mittelpunkt zu stehen.

Wiedersehen am ersten Schultag

Sechs Wochen später, am vergangenen Dienstag: Der erste Schultag nach den Sommerferien in Kochel. Die neunjährige Arina und ihre Freundin Rita freuen sich sehr über das Wiedersehen und auf das neue Schuljahr: "Die Schule gefällt mir sehr, weil die Kinder hier nett sind und ich viele Freunde hier habe!", so Arina.

Schade nur, dass ihre Freundin Anja den ersten Schultag in Kochel verpasst hat. Aber das hatte einen besonderen Grund: Sie ist mit ihrer Mutter Iryna Sukhomlinova zur rumänisch-ukrainischen Grenze gefahren, um endlich ihren Papa wiederzusehen.

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