Cafébesitzerin Dilek Yılmaz mit Familienmitgliedern
Bildrechte: BR/Eileen Kelpe

Für die Cafébesitzerin Dilek Yılmaz und ihre Familie spielt Atatürk immer noch eine wichtige Rolle.

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So blickt die Community in Bayern auf das Türkei-Jubiläum

100 Jahre Türkei – auch hierzulande feiern viele Türkinnen und Türken, viele Bayerinnen und Bayern mit türkischen Wurzeln den Gründungstag. Dabei kämpfen nicht wenige mit gemischten Gefühlen und schauen besorgt auf die heutige Türkei.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Am Sonntagabend leuchtet ein großes Feuerwerk über Istanbul. Dilek Yılmaz verfolgt das Lichtspektakel live im Fernsehen: hundert Jahre Republik Türkei. Sie hätte gerne dort mitgefeiert. Denn sie sieht in den Festlichkeiten, dass es noch etwas gibt, das die Menschen in dem Land zusammenhält, dass an diesem Tag alle gemeinsam feiern können, auch wenn die Gräben unter ihnen sonst so tief erscheinen.

"Da hat auf einmal die Rebellin, die sich mit ihrem Kopftuch unterdrückt gefühlt hat, neben der modernen Schickimicki gestanden. Und die haben Hand in Hand oder Arm in Arm mit denselben Tränen unter derselben Fahnen genau das gleiche empfunden, nämlich Dankbarkeit", sagt sie. "Als wenn es keine Spaltung mehr gibt. Das bedeutet mir sehr viel."

Hundert Jahre türkische Republik

Am 29. Oktober – hundert Jahre, nachdem Mustafa Kemal die türkische Republik ausgerufen hat – spürt Dilek Yılmaz, die mit ihrer Familie in der Nähe von München lebt, auch aus der Entfernung, dass an diesem Tag seit langem mal wieder ein "Wir" im Vordergrund steht. Auch in München gingen am Wochenende viele Menschen mit türkischen Flaggen und Laternen auf die Straße, und Vereine veranstalteten Feierlichkeiten.

Liebe zum Staatsgründer Atatürk

Die 50-jährige Cafébesitzerin Dilek Yılmaz ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Es ist das Land, das sie ihr Zuhause nennt. Die Türkei verbindet sie mit ihren Wurzeln, ihrer Familie, ihrer Kindheit – und Atatürk. Sie erinnert sich, dass früher im elterlichen Wohnzimmer ein gerahmtes Portrait eines ernsten Mannes hing. Sie war lange davon überzeugt, dass es ihr Opa war. Erst später erfuhr sie von ihrem Vater und in der Schule, dass es sich um den türkischen Staatsgründer Atatürk handelte – den Vater der Türken, den Mann, der das Land in die Modernität führte.

"Ich glaube, ich habe das mit in die Wiege gelegt bekommen, dass ich diese Emotionen und diesen starken Nationalstolz immer noch in mir trage", sagt Yılmaz. "Ich glaube, ich kann es einfach nur damit erklären, dass auch unsere Eltern Angst hatten, in einem fremden Land wie Deutschland das Kulturgut, das sie mitgebracht haben, zu verlieren."

Der Traum von einer modernen Türkei

Der Offizier Mustafa Kemal rief am 29. Oktober 1923 die türkische Republik aus und baute in rasanter Geschwindigkeit auf den Trümmern des osmanischen Reiches einen modernen und laizistischen Staat nach westlichem Vorbild. Er schaffte unter anderem den Islam als Staatsreligion ab, führte das lateinische Alphabet ein, trennte Religion und Staat und führte das Frauenwahlrecht ein – noch vor Frankreich. Umstritten ist er aufgrund seiner Minderheitenpolitik. Bis heute wird Atatürk verehrt und glorifiziert und ist Kern des türkischen Nationalismus.

Wenn über die Spaltung der türkischen Gesellschaft gesprochen wird, werden in erster Linie Kemalisten, also die Anhänger der säkulären Ideen Atatürks, und die Anhänger des politischen Islams, die sich heute hinter dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan stellen, gegenübergestellt. Doch bei vielen Türkinnen und Türken, egal welchem politischen Lager sie sich zugehörig fühlen, stellt Atatürk, um den es bis heute einen großen Personenkult gibt, das Grundverständnis des Türkenseins dar. Auch bei Menschen wie Dilek Yılmaz, die in Deutschland aufgewachsen sind oder auch später zugezogen sind.

Jubiläumsfeier in München – Bayerische Politiker bleiben fern

Für Vural Ünlü, Vorstandssprecher der Türkischen Gemeinde in Bayern, stehen am Gründungstag besonders die Ideen, die Atatürk verkörpert, im Vordergrund: "Seine Werte und seine Visionen sind immer noch lebendig in der türkischen Gesellschaft und in der politischen Kultur. Man versucht ihn natürlich auch zurückzudrängen, besonders Erdoğan, der sich als neuer Macher des nächsten Jahrhunderts sieht." Atatürk steht laut Ünlü vor allem für Gleichberechtigung der Geschlechter, Säkularismus und Rechtsstaatlichkeit. Er betont: "Diese Werte sind heute wichtiger als jemals zuvor." Genau diese würden an diesem Tag viele Menschen zusammenbringen – egal aus welchem politischen Lager.

Solidarität von deutscher Seite hätte Vural Ünlü sich auch bei dem offiziellen Jubiläumsakt des Generalkonsulats in München gewünscht, der am 30. Oktober stattfand. Doch bayerische Politiker blieben der Veranstaltung fern: "Ich bin enttäuscht", sagt Ünlü. "So ein rundes Jubiläum feiert man selten. Ich kann durchaus verstehen, dass es Verstimmungen gibt. Aber es geht rückblickend auf die Errungenschaften von Atatürk, der auch in puncto Säkularisierung, Demokratisierung auch ein Vorbild war für viele muslimische Nationen. Von daher ist es traurig."

Gemischte Emotionen bei Feiernden: Besorgter Blick auf die Türkei

Doch auch bei den Menschen, die feiern, gibt es unterschiedliche Stimmen, vor allem bei den Jüngeren. Beim offiziellen Festakt des Generalkonsulats, an dem auch viele Ehrenamtliche teilnahmen, gingen die Emotionen von glühendem Nationalstolz bis zur Ernüchterung.

So ist einerseits zu hören: "Ich bin aus der dritten Generation und stolz, hundert Jahre Republik zu feiern" oder "Dank Atatürk konnte ich als türkische, moderne Frau nach Deutschland ziehen und arbeiten." Andererseits: "Auch wenn es hundert Jahre Republik sind, wurde allgemein sehr klein gefeiert." Und auch Unzufriedenheit wird deutlich: "Die Situation in der Türkei ist kritisch und dem Land geht es nicht gut. Ich wünsche mir, dass sich was ändert."

Die Feierlichkeiten zu hundert Jahre türkische Republik klingen nun allmählich ab. Dilek Yılmaz trägt ihre Liebe zu Atatürk tief in sich. Und sie denkt an das Feuerwerk, das sie im Fernsehen gesehen hat und das immerhin für diesen Tag so viele Menschen zusammengebracht hat – auch wenn die Zukunft der Türkei ungewiss ist.

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