Menschen in Flüchtlingsunterkunft
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Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen, die in Deutschland Asyl suchen, ist in den vergangenen beiden Jahren stark angestiegen.

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Mehr türkische Staatsangehörige suchen in Deutschland Schutz

Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen, die in Deutschland Asyl suchen, ist in den vergangenen beiden Jahren stark angestiegen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich – die Chancen auf Asyl ebenfalls.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 1 am Morgen am .

Eine Gemeinschaftsunterkunft in der Region Ingolstadt: Hier leben seit knapp drei Monaten zwei türkische Männer. Sie wollen anonym bleiben. Amirs und Maliks (Namen geändert) Geschichten ähneln sich. Beide arbeiteten als Lehrer an einer der Militärschulen der türkischen Regierung. Mit dem Putschversuch von 2016 änderte sich für die beiden Männer alles.

Nach Putschversuch: Verdächtigungen und Verfolgungen

Die Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan verdächtigte zahlreiche Menschen, am Putsch beteiligt gewesen zu sein, darunter auch zahlreiche Menschen, die mutmaßlich der Gülen-Bewegung nahestehen. Die Bewegung ist ein in der Türkei gegründetes, mittlerweile weltweit agierendes muslimisches, politisches und wirtschaftliches Netzwerk. Sie steht in der Kritik, insbesondere in Bildungseinrichtungen junge Menschen zu rekrutieren, heißt es bei "Pro Asyl".

Nach dem Putsch wurden viele Menschen inhaftiert oder verloren unter anderem ihren Job - so auch der 53-jährige Amir. "Seit 2016 habe ich Angst vor unserer Regierung. Sie haben das gesamte Justizsystem zerstört – im ganzen Land", berichtet er. Seine Frau sei mit den erwachsenen Kindern bereits 2016 in ein anderes Land geflohen.

Gegen ihn laufe in der Türkei nun ein Prozess, erzählt er. "Alles, was ich getan habe, war, dass ich diese 'regimekritischen' (Anmerkung d. Red.) Bücher gelesen habe. Sie nannten mich einen Terroristen. Ich habe nie eine Waffe gehalten, ich habe nur ein Buch gehalten und sie nennen mich Terrorist. Und deshalb bin ich in der Türkei angeklagt." Über sechs Jahre Haft drohten ihm, wie er erzählt.

Malik hat Angst vor erneuter Haft

Ähnliche Erfahrungen hat auch der 33-jährige Malik gemacht. Er habe die Regierung Erdogans kritisiert. Deshalb drohe ihm in der Türkei eine Gefängnisstrafe. Seine Frau und seine beiden kleinen Kinder habe er in seinem Heimatland zurückgelassen. "Es war sehr schwer für mich, meine Familie zu verlassen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste fliehen, sonst wäre ich ins Gefängnis gekommen." Er sei schon einmal inhaftiert gewesen, berichtet Malik. Das wolle er nicht erneut erleben: "Das war eine schwierige Zeit. Wir wurden geschlagen und die Lebensbedingungen dort sind einfach schrecklich", erzählt er.

Beide Männer hoffen nun, in Deutschland in Sicherheit zu sein. Denn den Glauben an die türkische Justiz und ein faires Verfahren haben sie verloren. Immer wieder betonen sie, dass es eine unabhängige Justiz in der Türkei nicht mehr gebe und der Terrorismus-Begriff extrem weit gefasst werde.

Zahl der türkischen Asylanträge nahezu verdoppelt

Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, haben in diesem Jahr bis Ende Oktober rund 45.000 türkische Staatsangehörige einen Erstantrag auf Asyl gestellt. Das sind fast doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. 30,4 Prozent der Erstanträge auf Asyl stellten im Oktober Menschen aus der Türkei - das ist Platz zwei hinter Anträgen von Syrerinnen und Syrern, von denen 33 Prozent der Anträge stammten, und vor Geflüchteten aus Afghanistan, die knapp zwölf Prozent der Anträge stellten.

Grafik: Gestellte Asylanträge von türkischen Staatsbürgern

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Vor allem in den vergangenen beiden Jahren haben viele Menschen aus der Türkei in Deutschland Asyl gesucht.

Pro Asyl: Komplexe Fluchtgründe

Dass derzeit so viele türkische Menschen nach Deutschland kommen, überrascht Wiebke Judith von Pro Asyl nur wenig: "Denn die Menschenrechtssituation hat sich in der Türkei stetig verschlechtert. Und viele Menschen haben sicher nach der Wiederwahl von Präsident Erdogan eine gewisse Hoffnung verloren – auf einen Wandel zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit." Vor allem das Justizsystem in der Türkei arbeite nicht mehr unabhängig.

Dazu kämen laut Judith die wirtschaftlich schlechte Lage mit einer hohen Inflation und das schwere Erdbeben Anfang des Jahres. "Falsch wäre es jetzt aber zu denken, dass nur die wirtschaftliche Lage eine Rolle spielt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Geflüchteten angibt, die kurdische Volkszugehörigkeit zu haben", so Judith. Die Anerkennungsquote sei allerdings niedrig im Vergleich zu anderen Ländern.

Türkische Kurden: Mehrheit der Anträge - die meisten erfolglos

Die türkischen Kurden bekämen sehr selten Asyl, betont die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl. Das geht auch aus den Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hervor. Von den rund 45.000 gestellten Erstanträgen von Januar bis Oktober 2023 entfallen knapp 38.000 auf Kurden. Von den insgesamt 15.000 Entscheidungen, die in diesem Jahr für kurdische Türken getroffen wurden, hat das BAMF rund 10.000 Asylanträge abgelehnt.

Laut Pro Asyl hätten es die türkischen Kurden schwerer zu belegen, dass sie Opfer von Repression und Verfolgung seien. In diesem Jahr liegt die Gesamtschutzquote - also der Anteil der positiven Asylentscheidungen wie Asylanerkennung, Flüchtlingsstatus, subsidiärer Schutz und Abschiebeverbot - bei Türken bei 57 Prozent; bei kurdischen Türken unter fünf Prozent. Das BAMF erklärt, dass alle Anträge sorgfältig geprüft würden. Und betont, es sei immer eine Einzelfallentscheidung.

"Aufgrund individueller Faktoren können Entscheidungen auch bei Personen aus demselben Herkunftsland ganz unterschiedlich ausfallen. Auch die angegebene Volkszugehörigkeit muss nicht ursächlich für einen Schutzstatus sein", teilt eine Sprecherin auf BR-Anfrage schriftlich mit. Die Vorträge der Antragsteller seien so vielschichtig, dass es nicht möglich sei, diese auf eine statistische Komponente zu reduzieren. Auch die Gründe für einen Schutzstatus beziehungsweise für die Ablehnung eines Asylantrags würden statistisch nicht erfasst, so das Bundesamt.

Pro Asyl fordert: "Ehrlich machen" über die Lage in der Türkei

Doch Wiebke Judith sieht systemische Fehler bei den Entscheidungen über Asylanträge: "Die Bundesregierung beziehungsweise das untergeordnete Bundesamt für Migration und Flucht muss sich ehrlich machen, wie die Lage in der Türkei ist. Das ist kein Rechtsstaat mehr." Es sei eine Regierung, die viele Menschen in der eigenen Bevölkerung aktiv verfolge und die auch die Justiz dafür einsetze.

Noch immer werde die Einschätzung der türkischen Justiz übernommen, kritisiert sie. "Wir sehen, dass die Menschenrechtslage auch aufgrund von politischen Gründen schöngeredet wird, aber das ist natürlich vor allem im Asylverfahren fehl am Platz. Hier muss es um die tatsächlichen Realitäten gehen, vor denen die Menschen fliehen", meint sie.

In der Flüchtlingsunterkunft im Raum Ingolstadt fühlen sich Amir und Malik sicher. Ihr Vertrauen in den deutschen Staat ist groß. Sie hoffen auf einen positiven Bescheid ihres Asylantrags – und auf ein freies Leben in Deutschland.

Dieser Artikel ist erstmals am 28. November 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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