Menschen halten Schilder des Projekts "Die Rückkehr der Namen", darauf abgebildet Fotos und Namen von Ermordeten des Nazi-Regimes
Bildrechte: BR/Johanna Schlüter

Tausende Menschen liefen in München mit auf dem sogenannten "Weg der Erinnerung".

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"Rückkehr der Namen": Knapp 5.000 Menschen gedenken NS-Opfern

Während des NS-Regimes waren sie nur noch Nummern: Millionen Menschen, die verfolgt und ermordet wurden. Ein BR-Projekt hat ihrer nun mithilfe von 1.100 Geschichten und einer Veranstaltung am Odeonsplatz gedacht. Das Ziel: "die Rückkehr der Namen".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Überall in der Stadt waren sie verteilt, die Münchnerinnen und Münchner mit großen blau-grauen Plakaten. Darauf zu sehen: Fotos von Menschen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Die Münchnerin Inga Pinhard zum Beispiel hat ihre "Patin", die Journalistin und Politikerin Johanna Stahl, auf dem Marienplatz vorgestellt. Nach ihrem Berufsverbot wurde die Jüdin deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet. Ein älterer Passant erzählt im Gespräch nicht nur seine eigene Familiengeschichte aus der NS-Zeit, sondern fragt sich, was er wohl damals gemacht hätte. "Die Frage ist auch, was wir jetzt tun!", so Inga Pinhard. Deswegen stehe sie am Marienplatz.

Geschichten und Personen aus ganz Bayern

Doch nicht nur verfolgten Münchnerinnen und Münchnern wurde ein Gesicht verliehen. Lukas Kaufmann zum Beispiel ist aus Würzburg angereist. Seine Patin ist eine Würzburger Näherin, die in München gearbeitet hat und in einem Vernichtungslager der Nationalsozialisten im heutigen Polen umkam. Lukas Kaufmann erzählt von angeregten Gesprächen mit Passanten, die selbst "sehr persönlich" waren, weil es eben um persönliche Geschichten gehe. Ein Thema in Gesprächen sei die AfD gewesen, "gerade wenn man sich diesen Kontext der AfD bewusst macht, dass theoretisch ,so etwas` nie weg war", so der Würzburger.

Auch an Opfer der Krankenmorde wird erinnert

Die 28-jährige Milena Winkler steht nur wenige Meter weiter, nahe der Oper mit einem Schild über die Münchnerin Marie Winterhalter. Zu sehen ist kein Gesicht, aber ein überlieferter Brief an die Stadt München. "Marie Winterhalter war Opfer der Krankenmorde", erzählt Milena Winkler, nur vier Tage vor Kriegsende. An die Stadt München hat die Frau, die Künstlerin werden wollte, noch geschrieben, um aus der "Heil- und Pflegeanstalt" Eglfing-Haar entlassen zu werden.

Tausende Fotos und Geschichten im ganzen Münchner Stadtgebiet

Milena Winkler, Lukas Kaufmann und Inga Pinhard sind nur drei Personen von rund 1.100 Menschen, die eine Patenschaft übernommen haben. Unter den Patinnen und Paten waren auch bekannte Gesichter wie die ehemalige Biathletin und Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele (für die Zoologin Wilhelmi Hedwig, die Opfer der Krankenmorde wurde) oder die Autorin Amelie Fried mit ihrer Tochter Paulina (für ihre jüdischen Vorfahren Max und Lilly Fried). Auch die Landtagspräsidentin und Schirmherrin des Projekts Ilse Aigner hat vor dem Landtag eine Lebensgeschichte präsentiert: die von Eduard Hamm, der Politiker der Deutschen Demokratischen Partei war. Er wurde infolge des Attentats vom 20.07.1944 festgenommen und starb dann auf ungeklärte Weise.

München: "Erinnerungsweg" vom Königs- zum Odeonsplatz

Gegen 17 Uhr zogen etwa 3.700 Menschen vom Königsplatz als ehemaligem Aufmarschplatz der Nazis bis zum Odeonsplatz. Den "Weg der Erinnerung". Denn München war nicht nur Gründungsort der NSDAP und somit "Hauptstadt der Bewegung" für die Nationalsozialisten, sondern auch Blaupause für die weitere systematische Verfolgung und Vernichtung von Millionen Menschen, erklärte der Initiator des Projekts Andreas Bönte. Ihn habe vor allem die Beschäftigung mit dem Eichmann-Prozess dazu motiviert, statt langer Listen von Opfern die Einzelschicksale zu erzählen.

Charlotte Knobloch: "Viele können sich das nicht mehr vorstellen"

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch, Unterstützerin des Projekts, freute sich vor allem darüber, dass so viele Menschen an einem Tag, an dem sonst nicht gedacht wird, aktiv wurden. Gerade jetzt sei es ein wichtiges Zeichen, da immer mehr Zeitzeugen sterben. "Viele können sich das nicht mehr vorstellen, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Heute zeigen wir es mit Personen und mit Namen", erklärte sie gegenüber BR24.

4.800 Menschen auf dem Odeonsplatz

Auf dem Odeonsplatz gedachten laut Veranstalter etwa 4.800 Menschen den NS-Verfolgten. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, etwa erinnerte daran, dass "der Holocaust an etwa 500.000 Sinti und Roma im NS-besetzten Europa jahrzehntelang geleugnet, ignoriert und verdrängt" wurde. Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, sprach auf der Bühne. Vor allem über den seit dem 7. Okober für ihn vermehrt spürbaren Antisemitismus.

Außerdem wurden zwei Zeitzeugen interviewt. Dr. Eva Umlauf, Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz, etwa betonte, dass es vor allem für die jüngere Generation wichtig sei, die Geschichte zu kennen, "weil wir aus der Geschichte auch auf die Zukunft blicken können." NS-Verfolgter Ernst Grube zeigte sich "zutiefst berührt, wie viele Menschen sich bereit erklärt haben, die Erinnerung für die Opfer wachzuhalten".

Positive Rückmeldungen von Besucherinnen und Besuchern

Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von der Band "Dreiviertelblut". Der BR-Chor sang etwa eine Adaption des Lieds der Moorsoldaten, welches 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor geschrieben worden ist. Das Münchner Rundfunkorchester spielte unter anderem Werke von Nino Rota. Viele zeigen sich bewegt nach dem Erinnerungsprojekt „Rückkehr der Namen“. Zum Beispiel Christine Kalkowski, die ihr Plakat mit Nelly Beer am liebsten gar nicht wieder abgegeben hätte: "Ich fühle mich dieser Person jetzt so verbunden. Es rührt mich so in der Seele an, ich kann ihr nur einen Platz in meinem Herzen geben."

Im Video: Interview mit Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Gespräch mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, über das Erinnerungsprojekt "Rückkehr der Namen".
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Gespräch mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, über das Erinnerungsprojekt "Rückkehr der Namen".

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