Kommentar von BR-Chefredakteur Christian Nitsche
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Kommentar: KI für den Kampf der politischen Systeme

Künstliche Intelligenz wird auch zum Gamechanger im Wettstreit von Demokratien mit Unterdrücker-Staaten. Um unsere Freiheit und Werte zu sichern, müssen wir massiv investieren, kommentiert BR-Chefredakteur Christian Nitsche.

Über dieses Thema berichtet: Radiofeature am .

Wir sind die letzte Generation der Steinzeit. Die Letzten, die ohne künstliche Intelligenz aufgewachsen sind. Viele sogar noch ohne Internet. Die Menschen im nächsten Jahrhundert werden uns belächeln, hassen und beneiden. Belächeln aufgrund unserer technischen Unbeholfenheit. Hassen wegen der Unfähigkeit, lange bekannte Probleme zu lösen, zum Beispiel den Klimawandel. Und beneiden für das unmittelbare Leben. Sie werden diese Zeit romantisieren, wie wir die Ritterzeit. Ganz besonders das 20. Jahrhundert: Man brauchte lange noch echte Landkarten zum Reisen. Menschen konnten ihre Partner nur in der realen Welt kennenlernen. Sie mussten noch Sprachen lernen, um sich zu verständigen. Für einen Urlaubsgruß brauchte es Postkarten. Und vor allem: die Menschen waren noch Individuen, die nicht virtuell kopiert werden konnten, die es nur einmal gab. Also aus zukünftiger Perspektive wahre Steinzeit. Und für den neuen Homo Technicus fast unvorstellbar, dass es so etwas überhaupt mal gab.

Letzte dumme Generation

Womöglich werden sie uns zur letzten dummen Generation erklären. Eine Generation, die selbst isoliert im Denken war. Die sich dann orientierungslos in ein neues Zeitalter katapultierte. Die völlig überfordert war von der sprunghaften Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Überdeutlich wurde dies, als 2023 weltweit Hunderte KI-Experten in einem offenen Brief eine Entwicklungspause für KI forderten. Eine Nachdenkpause für eine Zieldefinition. In den digitalen Archiven wird nachlesbar sein, dass sich diese Experten darum sorgten, dass wir "die Kontrolle über unsere Zivilisation verlieren". Sie warnten davor, dass wir mit "Propaganda und Unwahrheiten überflutet werden".

Es kann manchmal hilfreich sein, sich aus der Zukunft zu betrachten: Damals im Jahr 2023 stand man an einer Schwelle. Die Menschen taten, was sie immer tun, wenn sie sich unsicher fühlen. Sie greifen auf bewährte Handlungsmuster zurück. Und so definierten sie KI als Werkzeug, allerdings ohne zu begreifen, dass dies deutlich mehr war. Sie wollten sich von anderen Menschen nicht technisch abhängen lassen, und schufen dabei Algorithmen, die in vielen Belangen alle Menschen abhängten. Sie legten einen Teil ihrer selbst in andere Hände, indem sie in Superrechner all ihr Wissen hochluden. Sie wollten so das Lernen beschleunigen, ohne eine Ahnung zu haben, was daraus resultiert. Ihre eigene hohe Lernfähigkeit hatte die Menschen in der Evolution aus dem Tierreich herausgehoben. Über die Jahrtausende hatte der Mix aus Macht- und Wissensdrang den Homo sapiens in die einflussreichste Stellung auf Erden gebracht. Und nun fragten sich die Menschen: Besteht Gefahr, dass wir unsere evolutive Verdrängungsstrategie auf selbstlernende KI-Systeme übertragen? Endet dies in einer aggressiven Kopie unseres Naturells?

Gut, wenn wir so unser gegenwärtiges Handeln hinterfragen. Vielleicht noch rechtzeitig, um nachzusteuern. Skepsis ist gesund, im Grunde ist sie ein Überlebensprinzip. Wir brauchen jetzt eine nüchterne Chancen-Risiken-Abschätzung. Aber dann sollten wir uns auch für einen Weg entscheiden.

Unfähigkeit zur Einigung

Zunächst müssen wir festhalten: Hier der Mensch, da die Maschine, das ist zu simpel. Das ist nicht die entscheidende Frontstellung. Sie verläuft vielmehr zwischen den Menschen, den Staaten und politischen Systemen. Ganz entscheidend für unsere weitere Strategie sind diese Fragen: Dürfen wir die Hoffnung haben, dass die nächsten drei G20-Treffen das neue KI-Zeitalter als Schwerpunkt haben werden? Einigt sich die Welt schließlich auf einen für alle verbindlichen Standard, der freiheitliche Werte festschreibt? Gibt es bis dahin einen Entwicklungs-Stopp? Überall: nein. Seien wir also realistisch: Die Entwicklung ist rasant. Es gibt kein Innehalten. Der Experten-Aufruf für eine Entwicklungspause und eine Besinnungsphase scheint wirkungslos.

Mira Murati, CTO von OpenAI, also die Entwicklungschefin von ChatGPT, hat im Interview mit dem "Time"-Magazin an die Politiker adressiert: "Es ist für jeden sehr wichtig, sich zu beteiligen, wenn man bedenkt, was für einen Einfluss diese Technologien haben werden." Gefragt sei jetzt der Input von Regierungen und Regulierungs-Behörden. Aber KI wird in seiner Dimension, entgegen vielerlei Bekundungen, weiterhin unterschätzt. Es paaren sich Unbekümmertheit und Ahnungslosigkeit mit Handlungsschwäche. Die meisten Staaten haben kaum kompetentes Personal, das auf Augenhöhe mit KI-Entwicklern in den Tech-Firmen sprechen könnte.

Muss uns dies alles wundern? Ist Unfähigkeit zum gemeinschaftlichen Handeln überraschend? Weltweite Standards haben die Menschen nicht mal bei Steckdosen geschafft. Wie kommen wir dennoch voran? Reduzieren wir Komplexität. Konzentrieren wir uns zunächst auf unseren Kulturkreis. Nutzen wir die Chancen und minimieren wir die Fehlentwicklungen. Seien wir die Besten, die dann im Wettbewerb die Standards beeinflussen können. Und da es letztlich auch um den Wettbewerb von Demokratien mit Autokratien geht: Seien wir nicht defensiv, sondern zum Eigenschutz offensiv.

Wertegemeinschaft für KI

Was sind die wichtigsten Punkte? Erstens brauchen wir wenigstens in der Gemeinschaft der Demokratien einen festen gemeinsamen digitalen Werterahmen für die KI-Entwicklung. Wir müssen hier die Grundsätze unserer liberalen, regelbasierten Ordnung implementieren und somit verteidigen. Ethische Grundsätze sind zu wahren, nicht zu opfern. Das ist keine rein europäische Aufgabe, das betrifft alle Staaten der Wertegemeinschaft.

Zweitens sollten wir massiv in die Weiterentwicklung solcher KI-Modelle investieren. Für die Freiheit. Auch Staaten, die Demokratien bekämpfen, schießen dramatisch viel Geld in KI-Bereiche. Eine Werte-Koalition sollte deshalb ihre KI-Forschungsausgaben - als Katalysator für die eigene Wirtschaft - drastisch erhöhen. Drittens brauchen wir ein internationales Kontrollsystem für KI-Modelle, um Fehlentwicklungen sofort zu erkennen und zu beheben. Es braucht Regulierung und Sanktionsmöglichkeiten. Letztlich sind KI-Systeme nötig, die als Wächter für andere KI-Systeme fungieren.

Schutz durch Beschleunigung

Kurzum: Weil keine einheitliche weltweite Regulierung durchsetzbar ist und KI stattdessen als Instrument im Kampf der Systeme genutzt wird, muss eine Allianz demokratischer Staaten versuchen, den Kampf um die Vorherrschaft bei Künstlicher Intelligenz zu gewinnen. Die großen Internetkonzerne in den USA, die jetzt gigantische Summen in KI investieren, brauchen wir in der Allianz für gemeinsame Standards. Nötig sind letztlich dominante KI-Systeme, die immer auch westliche Werte achten. Klüger wäre es zwar, gemeinsam zu entschleunigen. Aber um Schlimmeres zu verhindern, müssen wir sehr konzentriert, achtsam und zugleich hochmotiviert beschleunigen.

Noch ein Wort zum Gebot der Transparenz bei Programmcodes: Es wird immer wieder betont, wie wichtig dieses sei. Aber wir können nicht jeden Fortschritt teilen. Transparenz darf nicht dazu führen, dass Staaten wie Russland, Nordkorea oder China unsere technischen Fortschritte dazu nutzen können, ihren Unterdrückungsapparat auszubauen. Wir dürfen auch von China wirtschaftlich nicht noch abhängiger werden, weil es billiger sein könnte, dort bestimmte KI-Systeme einzukaufen. Wir würden China letztlich Zugang zu unserer digitalen DNA geben.

Europa selbst versucht mit dem AI Act ein Musterschüler zu werden, was Ethik und Regulierung betrifft. Das ist grundsätzlich gut. Allerdings darf dies technische Entwicklungen nicht abwürgen und Start-Ups in andere Länder abwandern lassen. Und vor allem müssen wir uns ehrlich machen: Die bisherige Rechenkraft der europäischen Forschungszentren reicht bei weitem nicht aus, um vorne mitzuspielen. Es geht um eine Milliarden-Summe, die zweistellig sein dürfte, um in den nächsten Jahren allein bei der Rechenleistung international eine Rolle zu spielen.

Nicht mehr stoppbare Entwicklung steuern

Fazit: Wir brauchen beim Thema KI einen Schulterschluss demokratischer, ordnungsbasierter Staaten. Das mag ein schwieriges Unterfangen sein. Aber wollen wir unsere Freiheit erhalten, müssen wir künstliche Intelligenz so einsetzen, dass sie im wirtschaftlichen Wettbewerb durchsetzungsstark ist.

Der nicht endende Wettstreit politischer Systeme wird also zum Beschleuniger des Einflusses Künstlicher Intelligenz. Aber was bleibt uns anders übrig, als eine Entwicklung steuern zu wollen, die wir nicht stoppen können. Wir müssen massiv investieren. Stephen Hawking hat 2017, ein halbes Jahr vor seinem Tod, gesagt: "Erfolgt die Entwicklung von vollständig künstlicher Intelligenz, könnte dies das Schlimmste oder das Beste sein, was den Menschen je widerfahren ist." Lassen wir die Entwicklung also nicht einfach laufen. Machen wir das Beste draus.

Ein Kommentar von Christian Nitsche, Chefredakteur Bayerischer Rundfunk

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