Kinder mit Behinderung brauchen oft eine besondere Betreuung. Doch wieviel Plätze dafür wo in Deutschland bereitstehen, ist unklar.
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Es gibt zu wenig professionelle Betreuung für schwerbehinderte Kinder. Die Folgen für Kinder und Eltern sind teils dramatisch.

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Kaum Heimplätze für schwerbehinderte Kinder in Bayern

Es gibt zu wenig professionelle Betreuung für schwerbehinderte Kinder. Das räumen die Behörden und Sozialministerin Ulrike Scharf im Interview mit dem BR-Politikmagazin Kontrovers ein. Die Folgen für Kinder und Eltern sind teils dramatisch.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Francesca schreit. Sie hockt auf dem Boden und tobt. Beruhigen lässt sie sich kaum. Das sind ihre schlechten Tage. Aber auch an ihren guten Tagen kann sie sozial kaum interagieren, erzählt ihre Mutter im BR-Politikmagazin Kontrovers. Die 17-Jährige kam mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt. Francesca ist mehrfachbehindert, bei ihr wurde frühkindlicher Autismus diagnostiziert.

Francesca: Komplexe Mehrfachbehinderung, 24h-Betreuungsplatz nötig

Weil ihr Entwicklungsstand dem eines Kleinkindes entspricht, braucht Francesca eine intensive Betreuung: 24 Stunden lang, jeden Tag, und vor allem auch jede Nacht. Doch nach jahrelanger Betreuung ihrer Tochter zu Hause konnten ihre Eltern irgendwann nicht mehr: "Ich musste ja in die Arbeit gehen und habe die Nächte nicht geschlafen. […] Das hat mich immens Kraft gekostet. Irgendwann hat meine Gesundheit nicht mehr mitgemacht", sagt ihre Mutter. Sie begannen deshalb, einen Wohnheimplatz für ihre Tochter zu suchen.

Doch einen Betreuungsplatz in einer geeigneten Einrichtung für schwerbehinderte Kinder und Jugendliche zu bekommen, ist alles andere als einfach in Bayern. Reguläre Einrichtungen seien oft überfordert, weiß Marcel Romanos. Der Kinder- und Jugendpsychiater leitet die Klinik am Greinberg, eine Spezialklinik für Kinder mit komplexer Mehrfachbehinderung. Und das, obwohl die jeweiligen Regierungsbezirke eigentlich den Auftrag haben, für ausreichend Pflegeplätze zu sorgen. Er fordert: eine bessere ambulante Hilfe und ein früheres Interventionssystem.

Sozialministerin Scharf: "Wir brauchen mehr Plätze, der Bedarf steigt"

Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf gibt im Interview mit Kontrovers zu: "Wir brauchen definitiv mehr Plätze, das steht fest." Der Grund dafür sei klar: Der Bedarf steige, die Zahlen für Kinder und Jugendliche, die eine Betreuung bräuchten, gingen nach oben.

Gleichzeitig gebe es zu wenig Betreuungs- und Pflegepersonal, der Fachkräftemangel schlage sich auch hier nieder, verteidigt sich Sozialministerin Scharf, und verweist auf die Zuständigkeit der Regierungsbezirke: "Die Bezirke müssen sich darum kümmern, für den individuellen Menschen, den Jugendlichen, die Kinder die entsprechenden Plätze zu finden."

Eltern sind auf sich allein gestellt bei der Suche nach einem Heimplatz

Allerdings: Die Regierungsbezirke wissen zwar, wie viele Heimplätze es theoretisch bei ihnen gibt, doch ob und wie die bereits belegt sind, das wissen sie nicht. Denn – genauso wie die Verteilung der Plätze – liegt das in der Verantwortung der Träger der Einrichtungen, der Sozialverbände, Kirchen und Stiftungen.

Heißt für die Eltern am Ende: Sie müssen selbst alle infrage kommenden Wohnheime kontaktieren und klären, ob es einen passenden Platz für ihr mehrfachbehindertes Kind gibt oder nicht. Nur: Viele Wohnheime sind bereits voll belegt, oft auch durch Kinder und Jugendliche aus anderen Bundesländern. Eine bayern- oder sogar bundesweite Erhebung, wie viele Heimplätze in Deutschland zur Verfügung stehen und wie viele fehlen, gibt es nicht.

Sozialreferent: Neu geschaffene Plätze wären "sofort wieder belegt"

Beim Bezirk Mittelfranken, der für Francescas Familie zuständig ist, kennt man die Not der knappen Heimplätze ebenfalls: Selbst wenn man weitere geeignete Wohnheimplätze schaffen würde, "wären die binnen zwei Wochen sofort bundesweit wieder belegt", sagt Klaus Zander, der stellvertretende Leiter des Sozialreferats des Bezirks Mittelfranken. Denn weil es so wenige Heimplätze gibt, suchen viele Familien verzweifelt in ganz Deutschland und nehmen lange Strecken in Kauf.

Nach langer, erfolgloser Suche in Bayern hatten vor fünf Jahren auch Francescas Eltern endlich einen Betreuungsplatz gefunden: 200 Kilometer von zu Hause entfernt, in Thüringen. Doch im September vergangenen Jahres kam dann der Schock: Francescas Vertrag wurde wieder aufgekündigt. Begründung der Einrichtung: Ihre Zwänge und ihr Verhalten seien für die anderen Bewohner und das Personal nicht mehr tragbar.

Mehr als 100 Wohnheim-Absagen

Seitdem suchen Francescas Eltern verzweifelt einen neuen Wohnheimplatz in ganz Deutschland. Sie haben sich an mehr als hundert Einrichtungen gewandt, aber alle haben bisher abgesagt. Finden sie keinen Platz, müsste Francescas Mutter aufhören zu arbeiten, und Bürgergeld beantragen. Aber sie will nicht aufgeben, will weiterkämpfen. Für ihre Tochter, für sich – aber auch für andere betroffene Eltern, sagt sie dem BR-Politikmagazin Kontrovers:

"Jahrelang haben wir uns versteckt, weil wir Beruf und Pflege vereinen wollten. Man sieht nicht, wie wir die Nächte wach liegen, wie wir eigentlich auch darum darunter leiden, dass wir so alleingelassen werden, dass wir für alles kämpfen müssen. Ich finde, das sollte zukünftig besser geregelt werden, dass wir keine Lücke mehr im System sind." Francescas Mutter

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