Nahaufnahme eines Rollstuhls
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Die Plätze in Wohnheimen für Schwerbehinderte sind knapp - zu knapp, wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigen.

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Wohnheime voll: Wenn schwerbehinderte Kinder erwachsen werden

Sommerferien sind für Familien eigentlich eine Zeit zum Ausspannen. Doch einige Eltern sitzen auf Kohlen. Werden sie bis September einen Wohnheimplatz für ihr schwerbehindertes Kind finden? Zusagen gibt es oft erst in letzter Minute.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Im April traf ein Team des BR-Magazins Kontrovers die Familie von Lea zum ersten Mal. Sie war gerade 18 geworden. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Doch für Leas Eltern bedeutete die Tatsache, dass ihre schwerbehinderte Tochter erwachsen geworden ist, puren Stress.

Lea hatte damals noch ein Zimmer in einem Schüler-Wohnheim für Jugendliche mit Handicap – im Integrationszentrum für Cerebralparesen ICP in München. Hier wohnen vor allem Schülerinnen und Schüler mit schweren Gehirnschäden. Lea ist genügsam, sie kann sich stundenlang mit einem Stapel Kochzeitschriften beschäftigen, sie blättert sie durch, schaut sich die Bilder an und fängt wieder von vorne an. Sie kann sprechen, aber ihre kognitiven Fähigkeiten sind stark eingeschränkt.

Nur auf der Warteliste ist ein Platz frei

An den Wochenenden ist die 18-Jährige abwechselnd beim Vater und ihrer Mutter. Die Eltern leben getrennt. Lea ist auf den Rollstuhl angewiesen und kann nur kleine Strecken gehen. Henning Brunotte macht sich Sorgen, was aus seiner Tochter wird, wenn sie keinen Anschluss-Platz in einer Behinderteneinrichtung findet. "Wir sind beide berufstätig. Wir müssten Lea bei uns komplett übernehmen", sagt der Vater, "das würde Lea isolieren, das würde uns isolieren und auf Dauer wäre es eine Katastrophe".

Zu Hause bei Leas Mutter, Sandra Bott-Bodenhausen, stapelten sich im Frühjahr die Broschüren von Wohnheimen. Es häuften sich auch die Absagen. Bei manchen Einrichtungen stand Lea wenigstens auf der Warteliste. Obwohl damals im April nur wenige Monate bis zum Schuljahresende bleiben, hatte die Familie keine konkrete Aussicht auf einen Platz in einer Einrichtung. Eine nervenaufreibende Situation.

Wie lange halten Eltern die Pflege durch?

Auch die Eltern des 18-jährigen Korbinian machen sich Sorgen, auch wenn dieser erst im nächsten Jahr seinen Platz in einem Schüler-Wohnheim verlassen muss. Vater Alfons Keim ist im Elternbeirat der Einrichtung, in der sein Sohn aktuell lebt. "Viele Heime haben Plätze abgebaut oder nicht aufgebaut", erzählt Keim. Viele Eltern wüssten nicht, wo sie ihre Kinder unterbringen sollen. "Wir reden ja nicht von sechs oder acht Jahren wie in Seniorenheimen, sondern von vierzig, fünfzig Jahren und das ist ein absolutes Problem."

Korbinian ist ein schlanker, großer, junger Mann, der aber nicht selbstständig essen oder trinken kann. Er kann nicht laufen oder sprechen, braucht Windeln und hat immer wieder Schmerzattacken. Er hat von Geburt an einen schweren Hirnschaden. Seine Eltern sind beide über 60, aber noch berufstätig. Am Wochenende ist Korbinian bei ihnen, auch manchmal mehrere Wochen oder Monate, wenn er krank ist. "Er kann sich zum Beispiel selber auch gar nicht umdrehen", erzählt seine Mutter, die nachts oft mehrmals aufstehen muss, um ihrem Sohn zu helfen, sich im Bett umzudrehen. "Dann denke ich an den Wecker, du musst ja dann aufstehen und arbeiten gehen."

Vor allem der Vater kümmert sich um den Sohn, beruflich hat er stark reduziert. Er wirkt angestrengt. Der Rücken ist vom vielen Bücken gebeugt. Wie lange werden die Eltern noch durchhalten? Was passiert, wenn es keinen Anschluss-Platz für ihren Sohn gibt?

In Wohnheimen fehlt Personal

Anfragen des BR beim bayerischen Sozialministerium, bei Bezirken und bei Trägern von Behindertenwohnheimen zeigen: Keiner der Verantwortlichen will für die akute Mangelsituation Verantwortung übernehmen. Nicht einmal Zahlen kann man nennen, wie viele Wohnplätze in Bayern derzeit fehlen. Mehrere bayerische Bezirke räumen lediglich ein, die Situation habe sich sehr verschärft.

Im Bezirk Oberbayern gibt es 11.000 Wohnplätze für schwerbehinderte Menschen, aber viele stehen nur auf dem Papier. Bei einem Ortsbesuch in einer oberbayerischen Einrichtung der Lebenshilfe, dem größten Träger für geistig behinderte Menschen, wird klar, was das heißt: Zimmer stehen leer, weil das Personal für die Betreuung fehlt. Die Trägervereine fordern schnelle Erleichterungen für ausländische Fachkräfte und insgesamt flexiblere Einstellungskriterien. Ein wenig hat die Politik inzwischen nachgebessert. Doch reicht das?

Zusage in letzter Minute

Die 18-jährige Lea ist Ende des Schuljahres aus ihrem Wohnheim ausgezogen, verbringt die Ferien abwechselnd bei ihrem Vater und ihrer Mutter. Eine erste mündliche Zusage für einen Wohnheimplatz ab September platzt. Es gibt eine weitere mündliche Zusage im August. In letzter Sekunde kommt dann Mitte August die erlösende Nachricht: Lea hat einen neuen Wohnheimplatz ab September.

Doch wenn immer wieder ganze Abteilungen schließen, weil zum Beispiel Personal fehlt, gibt es auch in Zukunft keine Sicherheit. "Das lässt mich schon sehr verzweifeln", sagt Sandra Bott-Bodenhausen, "es ist einfach eine Angst, langfristig eine Angst. Ich lebe ja auch nicht ewig."

Die Sorgen um die Zukunft des eigenen Kindes teilen alle betroffenen Familien. Ihr schwer behindertes Kind zu pflegen, schaffen die Eltern meist nicht alleine – schon gar nicht, wenn sie selbst älter werden. Sie sind auf eine zuverlässige staatliche Hilfe angewiesen.

Mehr zu diesem Thema hören Sie heute, am 16. August, in der Sendung "Funkstreifzug" um 12.17 Uhr im Radioprogramm von BR24. Den Podcast der Sendung finden Sie bereits jetzt in der ARD-Audiothek.

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