Die Angeklagte, die sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak angeschlossen haben soll, hält sich beim Betreten des Gerichtssaals einen roten Aktendeckel vors Gesicht. Recht steht ihr Anwalt Ali Aydin. (Archivbild)
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Die Angeklagte, die sich dem IS angeschlossen haben soll, mit ihrem Anwalt Ali Aydin. (Archivbild)

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IS-Prozess um getötetes jesidisches Kind: Urteil erwartet

Erst schüchtern und am Ende doch selbstbewusst: So erlebten Beobachter die angeklagte IS-Rückkehrerin Jennifer W. im Verfahren um ein mutmaßlich getötetes jesidisches Kind. Heute soll vor dem Oberlandesgericht München das Urteil gesprochen werden.

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Zum Schluss des Prozesses um ein getötetes jesidisches Kind hat sie sich gewehrt, verlas 39 handgeschriebene Seiten – mit viel Kritik am Gericht und auch an der aus ihrer Sicht einseitigen Berichterstattung der Presse. Mitte Oktober erklärte die angeklagte IS-Rückkehrerin Jennifer W. vor dem Oberlandesgericht München, was nach ihrer Meinung alles falsch gelaufen sei.

Angeklagte bestreitet Schuld am Tod der Fünfjährigen

"Der viel zitierte Satz 'Im Zweifel für den Angeklagten' kam in meinem Fall nicht zum Tragen", sagte die 30-Jährige. An ihr solle offenbar ein Exempel statuiert werden für alles Unrecht, das unter der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) geschehen sei. Die Frau aus Lohne in Niedersachsen bestritt insbesondere, für den Tod einer fünfjährigen Jesidin im Sommer 2015 im Irak verantwortlich zu sein, die als Sklavin festgehalten worden war.

Der Prozess wird genauestens von der jesidischen Community beobachtet. Immer wieder sitzen Abgesandte von Menschenrechtsorganisationen im Gerichtsaal und machen sich Notizen. Der Wunsch der Jesiden, dass den Opfern des IS Gerechtigkeit widerfährt, dieses Anliegen ist seit Start des Verfahrens im April 2019 deutlich spürbar – auch in anderen Gerichtssälen Deutschlands, wo sich zuletzt ehemalige IS-Mitglieder ebenfalls wegen vergleichbarer Vorwürfe verantworten mussten.

In Düsseldorf etwa wurde eine IS-Rückkehrerin unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Sie hatte eine Jesidin, die von einer anderen Frau als Sklavin gehalten wurde, für sich im Haushalt arbeiten lassen.

Die Tortur des jesidischen Mädchens

Das Münchner Verfahren ist der weltweit erste Prozess im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesiden. Heute liegt es nun am Oberlandesgericht, ein gerechtes Urteil zu fällen. Viele Fragen haben das Gericht, die Nebenklage und auch die Verteidiger gestellt, Antworten gab es nicht immer.

Auch weil wohl niemals ganz geklärt werden kann, ob das jesidische Mädchen, wie von der Bundesanwaltschaft behauptet, wirklich ums Leben gekommen ist: Jennifer W. war nach eigener Aussage im Jahr 2014 in den Irak gereist, um dort aus ideologischer Überzeugung einen IS-Kämpfer zu heiraten. Im Sommer 2015 soll sie der Anklage zufolge in Falludscha zugesehen haben, wie ein Mädchen ungeschützt und ohne Wasser der prallen Sonne ausgesetzt war. Zur Strafe fürs Bettnässen soll ihr damaliger Ehemann die Fünfjährige an einem Fenstergitter angebunden haben. Eine quälende Tortur, die laut Anklage zum Tode führte – und gegen die W. nichts unternommen haben soll.

Jennifer W. im Auto des V-Manns

Es dauerte einige Zeit, bis die Vorwürfe gegen Jennifer W. die Ermittler erreichten. Im Herbst 2015 kam die Angeklagte zurück nach Deutschland. Bis zu ihrer Festnahme im Juli 2018 war sie auf freiem Fuß und kehrte in die salafistisch-dschihadistische Szene zurück. Sie war als sogenannte Gefangenenhelferin aktiv – jener Personenkreis, der sich öffentlich mit Terrorverdächtigen in deutschen Gefängnissen solidarisiert und Geld für deren Angehörige sammelt. Teilweise gibt es auch Spendenaktionen für IS-Frauen in kurdischer Lagerhaft in Nordsyrien.

Sie habe sich von ihrer Mutter nach ihrer Rückkehr beobachtet gefühlt, schilderte die Angeklagte. Auch deshalb habe sie ihre erneute Ausreise geplant. Sie saß im Auto einer V-Person, als sie zum IS zurückwollte. Sie hielt die V-Person für einen Freund, einen Helfer. Nichtsahnend legte sie im verwanzten Wagen ihre IS-Beichte ab und sprach auch über den Tod des Mädchens. An einer Autobahn-Raststätte in Neu-Ulm wurde sie schließlich festgenommen. Weil die Festnahme in Bayern erfolgte, findet der Prozess gegen die Niedersächsin in München statt.

Heute sagt Jennifer W., vieles, was sie dem V-Mann gesagt habe, habe gar nicht gestimmt. So wie die Verteidigung zog die Angeklagte mit ihrem Schlusswort die Glaubwürdigkeit der wichtigsten Zeugin – der Mutter des gestorbenen Mädchens – in Frage. Diese habe sich in Widersprüche verwickelt. W. bestritt zudem, vom Tod des Kindes zu wissen. Anders als in der Anklage dargestellt, sei es nach der Bestrafung zwar ins Krankenhaus eingeliefert worden, habe die Klinik aber vier Tage später lebend verlassen. Über das weitere Schicksal des Mädchens wisse sie nichts. Bis zum heutigen Tag gebe es keine Beweise, dass die Kleine nicht mehr am Leben sei. Dem sei das Gericht aber nicht ausreichend nachgegangen.

IS-Rückkehrerin seit mehr als drei Jahren in U-Haft

Die Verteidiger Ali Aydin und Seda Basay Yildiz sehen nur den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung als erwiesen an. Dementsprechend haben sie eine Haftstrafe von zwei Jahren beantragt. Für alle anderen Anklagepunkte fordern sie einen Freispruch für die 30-Jährige, die schon seit mehr als drei Jahren in Untersuchungshaft sitzt.

Jennifer W. selbst hat zudem betont, sie sei entgegen der Anklage niemals Teil der sogenannten Sittenpolizei des IS gewesen: "Ich weiß nicht, ob das Kind noch am Leben ist – oder tot. Trotz allem bleibt die Mordklage gegen mich bestehen. Für den Rest meines Lebens bin ich mit dem Stigma Sittenpolizistin und Mörderin behaftet. Ich werde ein Urteil erhalten, das auf Spekulationen, Mutmaßungen und Fehleinschätzungen aufgebaut wurde."

Warum die Bundesanwaltschaft die Höchststrafe fordert

Aber es gibt eben auch die andere Perspektive. Die Bundesanwaltschaft und die Nebenklage sind nach wie vor von der schweren Schuld der Angeklagten überzeugt. Die Bundesanwaltschaft fordert eine lebenslange Haftstrafe. W. habe durch Untätigkeit den Tod des fünfjährigen Mädchens zu verantworten, sagte Oberstaatsanwältin Claudia Gorf Mitte September. Die Angeklagte sei unter anderem der Versklavung mit Todesfolge, der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Kriegsverbrechen schuldig. W.s Angaben seien nicht glaubwürdig und wiesen viele "logische Brüche" auf.

Die Bundesanwaltschaft war im Laufe des Prozesses vom Vorwurf des vollendeten auf den des versuchten Mordes durch Unterlassen umgeschwenkt. Das liegt daran, dass unklar ist, wann genau das Mädchen nicht mehr gerettet werden konnte. Im Gegensatz dazu fordert die Nebenklage ein Urteil wegen vollendeten Mordes. Grundsätzlich hält die Nebenklage die geforderte Höchststrafe für angemessen. Die IS-Rückkehrerin habe die Ideologie der Terrorgruppe IS und auch das Ziel, die Auslöschung der Jesiden, geteilt.

Münchner IS-Prozess: Die Botschaft der Friedensnobelpreisträgerin

Die jesidische Community dürfte mit Interesse verfolgen, wie nah das Münchner Gericht mit seinem Urteil an den Forderungen der Bundesanwaltschaft und der Nebenklage sein wird. Es ist augenscheinlich ein Prozess, der für politische Botschaften genutzt wird. Auch die Jesidin und Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad hat sich indirekt in das Verfahren eingeschaltet. 2019 nannte sie den Prozess einen großen Moment und ein wichtiges Verfahren für alle jesidischen Überlebenden. "Jeder Überlebende, mit dem ich gesprochen habe, wartet auf ein- und dieselbe Sache: Dass die Täter für ihre Taten gegen die Jesiden, insbesondere gegen Frauen und Kinder, verfolgt und vor Gericht gestellt werden."

Jesiden beim IS: versklavt und vergewaltigt

Zuletzt wurde auch bei anderen IS-Prozessen immer wieder an das große Leid der Jesiden erinnert. Laut Zeugenberichten versklavten und vergewaltigen IS-Kämpfer jesidische Frauen und Mädchen. Es gab auch entsprechende Online-Portale: Lichtbilder zeigten junge Mädchen in verschiedenen Posen und Perspektiven.

Der IS hat die Jesiden erniedrigt und degradiert. Doch vor Gericht gab Jennifer W. in ihrem Schlusswort zu verstehen, dass sie nicht für all diese Verbrechen herhalten könne und auch nicht herhalten wolle. Treibende Kraft sei ihr Exmann gewesen. Dieser habe die jesidische Frau und das Kind im gemeinsamen Haushalt im irakischen Falludscha unterdrückt: "Von meinem Exmann wurde den beiden psychische und physische Gewalt zugefügt. Dafür muss er auch zur Rechenschaft gezogen werden."

Der Exmann von Jennifer W. muss sich vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt unter anderem wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten.

Jennifer W.: Ich war machtlos

Die Mutter des mutmaßlich getöteten Mädchens wirkte während ihrer mehrtätigen Aussage immer wieder verwirrt und traumatisiert. Manche Fragen des Gerichts verstand sie trotz Dolmetscher nicht. Die Mutter kann weder lesen noch schreiben.

Vor Gericht hatte sie behauptet, Jennifer W. und ihr Mann seien gleichberechtigt gewesen. Hierzu sagte Jennifer W.: "Fakt ist, dass Frauen zum damaligen Zeitpunkt als Hausfrauen und Mütter agierten – oder in Frauenhäusern untergebracht waren. Da sollte ich die Führung gehabt haben? Mit einer solchen Aussage wird hier eine völlig neue Realität erschaffen, die es unter einem totalitären System nicht geben kann."

Und doch sagte die 30-Jährige auch, dass es ihr "von ganzem Herzen" sehr leid tue, was ihr Exmann dem jesidischen Mädchen und der Frau angetan habe. Sie hoffe, dass die Fünfjährige doch noch gefunden werde. "Auch ich", sagte Jennifer W., "musste ständig mit tätlichen Angriffen" rechnen. Den Handlungen ihres gewaltbereiten Exmanns sei sie vollkommen machtlos gegenüber gestanden.

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