Archivbild: Die Angeklagte steht mit einem roten Aktendeckel vor ihrem Gesicht zu Prozessbeginn zwischen den Anwälten Sera Basay-Yildiz (l) und Ali Aydin (r) im Gerichtssaals.
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Jennifer W. steht mit einem roten Aktendeckel vor ihrem Gesicht zu Prozessbeginn zwischen den Anwälten Basay-Yildiz (l) und Aydin (r).

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Plädoyers im IS-Prozess um getötetes Sklavenmädchen erwartet

Der Prozess um ein verdurstetes jesidisches Sklavenmädchen könnte bald enden. Die Bundesanwaltschaft will im Verfahren gegen Jennifer W. plädieren. Seit mehr als zwei Jahren geht es um die Frage, wie schuldig ist die IS-Rückkehrerin wirklich.

Hat eine junge Frau aus Niedersachsen im Irak tatenlos dabei zugesehen, wie ein jesidisches Sklavenmädchen angekettet in der Mittagssonne verdurstete? Seit mehr als zwei Jahren läuft der Prozess gegen Jennifer W. vor dem Oberlandesgericht München. Nun neigt sich das Verfahren dem Ende entgegen. Der mutmaßlichen Unterstützerin des sogenannten Islamischen Staates (IS) droht eine hohe Haftstrafe.

Heute will die Bundesanwaltschaft plädieren. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die Verteidiger noch einmal Anträge stellen und sich das Verfahren weiter hinauszögert. Ein Prozess mit vielen Geschichten und Begegnungen, etwa mit der IS-Rückkehrerin Marianne (Name geändert), die Jennifer W. gut kannte.

Wegen Aussagen bei IS-Prozessen: "Aus der Bahn geworfen"

Zeugenaussagen haben Marianne immer psychisch belastet. Sie wolle nicht ständig an ihre Zeit bei der Terrormiliz IS erinnert werden. "Du bist wirklich für Jahre, wenn du Pech hast, für das ganze Leben richtig traumatisiert", sagt sie in einem von mehreren Interviews, die der Bayerische Rundfunk mit ihr geführt hat.

Marianne war bis November 2015 knapp ein Jahr beim IS. Sie bereut und sagt, der Gang zur Terrorgruppe sei einer der größten Fehler ihres Lebens gewesen. Manchmal tauchen bis heute Ermittler bei Marianne auf, wenn sie die Anfang 50-Jährige mal wieder als Zeugin brauchen. Es gab Momente, da hat sie gezögert und sich überlegt, ob sie sich wirklich dem Stress aussetzt und wieder stundenlang durch Deutschland fährt, um vor einem Gericht auszusagen: "Danach bin ich erstmal komplett aus der Bahn geworfen, ich spüre die Belastung am ganzen Körper."

Vor mehr als zwei Jahren erschien Marianne im Verfahren gegen Jennifer W. auch in München vor dem Oberlandesgericht. "Jennifer war eine so liebe Person. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie was mit der Tötung des jesidischen Mädchens zu tun haben könnte", sagt Marianne.

Fall von Jennifer W. belastet salafistisch-dschihadistische Szene

Als im April 2019 der Prozess startete, war ein Ende kaum absehbar. Aber es war klar, dass es sich dabei nicht um irgendein Staatsschutzverfahren handelte. Der mutmaßliche Tod des fünfjährigen jesidischen Sklavenmädchens und die Verhaftung der IS-Rückkehrerin haben die salafistisch-dschihadistische Szene belastet. Es gibt Szeneangehörige, die wegen enger Kontakte zu Jennifer W. verstärkt in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten sind.

Gefangenhelfer für IS-Angehörige

Nach ihrer Rückkehr von der Terrormiliz IS im Herbst 2015 war Jennifer W. als sogenannte salafistische Gefangenenhelferin aktiv – jener Personenkreis, der sich öffentlich mit Terrorverdächtigen in deutschen Gefängnissen solidarisiert und Geld für deren Angehörige sammelt. Teilweise gibt es auch Spendenaktionen für IS-Frauen in kurdischer Lagerhaft in Nordsyrien.

Jennifer W. galt in der Szene als sehr engagierte Gefangenenhelferin, bestätigt Bernhard Falk, laut Verfassungsschützern selbst Teil der salafistisch-dschihadistischen Szene. Falk, der als Einzelkämpfer gilt, vermittelt mutmaßlichen Terrorunterstützern Anwälte. Er gibt zu verstehen, dass die Vorwürfe gegen Jennifer W. in der Szene durchaus kontrovers diskutiert werden. "Es ist ja bekannt, dass ich Sympathie habe für diejenigen, die nach Syrien gegangen sind bzw. in den Irak. Aber das ist natürlich kein Freifahrtschein für die Etablierung neuer Unterdrückungsverhältnisse, wenn man gegen Assad kämpft. Es ist ja nicht zu leugnen, dass an den Jesiden schwerste Verbrechen verübt worden sind. Also die man auch nicht rechtfertigen kann", sagt Falk.

Im Juli 2018 änderte sich das Leben von Jennifer W. komplett: Sie saß im Auto einer V-Person, als sie zum IS zurückwollte. Jennifer W. hielt die V-Person für einen Freund, einen Helfer. Nichtsahnend legte sie im verwanzten Wagen ihre IS-Beichte ab. An einer Autobahn-Raststätte in Neu-Ulm wurde sie schließlich festgenommen. Eigentlich kommt Jennifer W. aus Lohne in Niedersachsen. Weil die Festnahme aber in Bayern erfolgte, findet der Prozess in München statt.

Jennifer W., die Jesiden und eine prominente Nebenklägerin

Jennifer W. hat fast zwei Jahre geschwiegen. Erst im Frühjahr ließ sie von ihrer Anwältin Seda Basay-Yildiz eine Einlassung verlesen. Für Prozessbeobachter kam dieser Schritt reichlich spät und erscheint deshalb unglaubwürdig.

Der Prozess gegen Jennifer W. hatte Schlagzeilen gemacht, auch weil eine äußerst prominente Anwältin anfangs eine zentrale Rolle spielte: die Menschenrechtsexpertin und Ehefrau des Schauspielers George Clooney, Amal Clooney, die die Nebenklägerin und Mutter des getöteten Mädchens vertritt, vor Gericht in München aber nie erschien. Vor dem Prozess ließ sie in einer gemeinsamen Erklärung der Nebenklage und der jesidischen Organisation Yazda verlauten: "Jesidische Opfer warten schon viel zu lange auf ihre Gelegenheit, vor Gericht auszusagen."

Während ihrer Zeit bei der Terrorgruppe war Jennifer W. verheiratet. Ihr damaliger Ehemann, der Iraker Taha Al-J., muss sich seit April vergangenen Jahres vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verantworten. Ihm werden unter anderem Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Gemeinsam bewohnte das Ehepaar ein Haus im irakischen Falludscha.

Die Bundesanwaltschaft sagt, Jennifer W. und ihr Ehemann hätten das jesidische Mädchen und dessen Mutter als Sklavinnen gehalten. Die Fünfjährige soll 2015 im Hof des Hauses in Falludscha gestorben sein - gefesselt bei brennender Hitze. Der Mann soll sie angebunden, Jennifer W. tatenlos dabei zugesehen haben.

IS-Rückkehrerin: Ich wollte dem Mädchen helfen

Die Hände des Mädchens seien vorne an den Handgelenken zusammengebunden gewesen, sagte Jennifer W. in ihrer Einlassung. "Ich wollte ihr natürlich auf der Stelle helfen, wusste aber nicht, wie." Sie habe gemerkt, dass es immer heißer und die Sonne stärker wurde.

Darum habe sie versucht, ihren Mann dazu zu bewegen, das Kind wieder ins Haus zu holen. Er sei aber aggressiv geworden, habe gesagt, das Ganze gehe sie nichts an. Das Kind habe lernen sollen, "zu hören". Immer wieder habe sie ihn gebeten, das Mädchen wieder reinzulassen.

Erst als die Kleine zusammensackte, sei er zu ihr gelaufen und habe sie losgebunden. Weil sie leblos blieb, sei er mir ihr aus dem Haus gelaufen und zu einem Krankenhaus gefahren. Bei seiner Rückkehr habe ihr Mann nicht gesagt, dass das Mädchen gestorben sei.

Die Tränen von Jennifer W. und der brutale Ehemann

Bis zu ihrer Einlassung wirkte Jennifer W. unterkühlt. Prozessbeobachter spürten, sie wollte das Geschehen nicht zu sehr an sich heranlassen. Aber dann brach sie doch in Tränen aus, als sie selbst die Nachfragen des Senats beantwortete, als dieser wissen wollte, ob ein Einschreiten von Jennifer W. trotz des Ehemanns möglich gewesen wäre. "Zu diesem Zeitpunkt niemals", antwortete die Angeklagte. "Heute wäre es mir egal, wenn er mich schlagen oder töten würde. Aber damals hatte ich nur ihn."

Der Fall Jennifer W. – das ist auch die Geschichte einer unterdrückten Frau beim IS. Jennifer W. schilderte, ihr Mann sei sehr gewalttätig gewesen, habe auch das jesidische Kind geschlagen, wenn es beim Beten Fehler gemacht habe.

Prozesse in Frankfurt und München im Blick

Die Verteidiger der Angeklagten haben den Prozess in München, aber auch das Verfahren gegen den ehemaligen Ehemann in Frankfurt im Blick. Jennifer W. wird von Seda Basay-Yildiz und Ali Aydin vertreten. Im Prozess sind die Anwälte sehr weitgegangen. So weit, dass zwischenzeitlich gegen sie ermittelt wurde. Sie hatten in einem ihrer Beweisanträge vor dem Münchner Oberlandesgericht aus einem nicht-öffentlichen Islamismus-Prozess am Oberlandesgericht Düsseldorf zitiert, in dem sie ebenfalls als Pflichtverteidiger tätig waren. Das Verfahren gegen die Anwälte wurde schließlich gegen Geldauflage eingestellt.

Beim Ex-Partner der Angeklagten sind Martin Heising und Serkan Alkan die Verteidiger. Unklar ist laut Anwalt Alkan, was mit dem jesidischen Kind wirklich passiert ist. "Es gibt die Aussage von der Mutter des Mädchens, dass das Kind ins Krankenhaus gebracht worden ist. Und es gibt wohl inzwischen eine Zeugin aus dem Irak, die bestätigen kann, dass das Kind auch wieder entlassen worden ist aus dem Krankenhaus – und zwar lebend", sagt Alkan dem BR. Ob diese Version noch das Verfahren in München beeinflusst, wird der restliche Verlauf zeigen.

Die Mutter des Sklavenmädchens

Die Mutter des jesidischen Kindes hat in München vor Gericht mehrere Verhandlungstage lang ausgesagt. Die Mutter war die wichtigste Zeugin in dem Prozess gegen die IS-Rückkehrerin. Doch ihre Vernehmung gestaltete sich schwierig, langwierig und immer wieder sehr widersprüchlich. Die beiden Verteidiger betonten immer wieder, es sei ja gar nicht bewiesen, dass sie wirklich die Mutter eines toten Mädchens war und dass sie tatsächlich bei Jennifer W. und ihrem IS-Ehemann lebte. Jennifer W. selbst war es, die diese Zweifel ausräumte und vor Gericht schließlich zugab, die Frau zu kennen.

Jennifer W. ist inzwischen selbst Mutter eines Kindes, das in Deutschland geboren wurde. Der ehemalige, in Frankfurt angeklagte Partner ist der Vater. Kürzlich wollte das Gericht von Jennifer W. wissen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Die Angeklagte hat geantwortet: "Dass ich irgendwas studieren kann, was Nützliches machen kann. Ich möchte bei meiner Tochter sein – egal wo." Ihre Tochter, so Jennifer W., lebe bei der Oma und werde nicht religiös erzogen.

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