Bayern 2 - Nachtmix

Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Kurt Vile, Julie Byrne und Madness

Die Neuheiten der Woche im kompakten Überblick. Mit neuen Alben von Iron & Wine, Julie Byrne, Kurt Vile, Black Gain, MJ Lenderman, Juliana Hatfield, A08, Os Barbapapas, Jaakko Eino Kalevi und Madness.

Von: Angie Portmann

Stand: 16.11.2023

Julie Byrne | Bild: Tonje Thilesen

Iron & Wine - Who Can See Forever

Wir nähern uns mit riesigen Schritten der Dezember-Rushhour, dem großen Vorweihnachtsgeschäft. Verkaufsschlager sind hier immer Best-Of und Live-Alben. Oder noch besser: Live-Alben mit Best-Of-Charakter ;-).
„Who can see forever“ von Iron & Wine ist zwar kein Best-Of-Album und Beam hat auch erst vor vier Jahren ein Live-Album mit fast denselben Stücken veröffentlicht …aber, unique selling point, diesmal gibt’s zur Platte noch einen Film bzw umgekehrt. Der Dokumentar-/ Konzertfilm „Who can see forever“ porträtiert den Singer/Songwriter Sam Beam in einer superkreativen Phase seines Lebens, in einer Zeit, in der er für vier Grammys nominiert wurde. Und zeigt nicht nur den Musiker, sondern auch den Künstler, Ehemann und Vater von fünf Töchtern. Der Soundtrack dazu kommt von einem ausgesprochen gut eingespielten Team. Von Musiker*innen, die schon seit drei Jahren zusammenspielen, großartig miteinander harmonieren und so manchen Iron & Wine-Song in frischem Glanz erstrahlen lassen. Mir persönlich geht ob soviel himmlischen Wohlklangs, soviel Band-Perfektionismus die ursprüngliche Iron & Wine-Faszination manchmal etwas verloren, das Geheimnisvolle, Reduzierte. Aber Sam Beam-Fans werden mit diesem Package sicherlich sehr glücklich. (7,7 Punkte)

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Iron & Wine - Thomas County Law (Live) [Official Live Video] | Bild: IronandWine (via YouTube)

Iron & Wine - Thomas County Law (Live) [Official Live Video]

Kurt Vile – Back to Moon Beach

Kurt Vile, Vorzeige-Slacker aus Philadelphia, überrascht uns auf "Back to Moon Beach" mit einer weirden Synthie-Version von „Must be Santa“, eingesungen zusammen mit seinen beiden Töchtern Awilda und Delphine. Anti-Folk a la Moldy Peaches. Bereits 2022 von Kurt Vile für einen Spotify-Weihnachts-Sampler aufgenommen „Must be Santa“ stammt übrigens  im Original von Hal Moore und Bill Fredericks, in den 1960er Jahren zum ersten Mal aufgenommen und immer wieder gern gecovert, u.a. 2009 von Bob Dylan. Kurt Vile dachte deshalb auch zuerst, er covert Dylan und merkte erst später, dass das Original viel viel älter ist. Zusammen mit einem Wilco-Cover, etlichen Neuinterpretationen alter Kurt Vile-Songs und einigen neuen Stücken zu finden auf "Back to Moon Beach". Die Vinyl-Variante kommt sogar noch mit einem Charlie XCX-Cover. Offiziell immer noch eine EP, mit einer knapp einstündigen Spielzeit aber auch problemlos als Album zu verkaufen. Ein klassisches, wie immer extrem lässiges Kurt Vile-Album. Herrlich abgehangen, mit wunderbar warmen, analogen Sounds und … mit einem entzückenden Ausreißer, besagtem „Must be Santa“ eben. Oder“Another Good Year For The Roses”, einem psychedelischen Ohrwurm, den Kurt Vile schon ein Jahr vor der Pandemie geschrieben hatte. Der aber zusammen mit dem Song „Touched somethin (caught a Virus)“ zurückgehalten wurde, da man Angst hatte, der ein oder andere könnte den Text zu wörtlich nehmen. (8 Punkte)

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Kurt Vile - Another good year for the roses | Bild: KurtVileVEVO (via YouTube)

Kurt Vile - Another good year for the roses

MJ Lenderman - And the wind (live and loose!)

Selten stellen wir hier in unserem wöchentlichen Neuheiten-Check ein Live-Album vor … aber Marc Jacob, kurz MJ, Lenderman aus Asheville, North Carolina, ist auf der Bühne einfach eine Macht. Und „And the wind (live and loose!)“ quasi ein Best of-Album und damit der perfekte Einstieg in das MJ Lenderman-Universum. Mit herrlich schrabbelnden Indie-Gitarren, J. Mascis lässt grüßen. Und auch der nölige Gesang von MJ Lenderman hat etwas angenehm Vertrautes. Hier dreht sich alles ums Scheitern, humorvoll, ja euphorisch zelebriert von einem, der gerade mal 24 Jahre alt ist, aber mit einer Selbstverständlichkeit agiert, die ihresgleichen sucht. Dabei ist es egal, ob MJ Lenderman über einen einsamen, im Regen stehengebliebenen, vor sich hin rostenden Grill singt - als Metapher für die „guten alten Zeiten“, die wir so gern romantisieren („Someone get the grill out of the rain“). Oder über Sportevents, wie ein Spiel der Chicago Bulls in den 1990ern („Hangover game“). Sein College-Rock meets Americana meets krachende Gitarrensoli gewinnt live definitiv. Zuletzt natürlich auch Aufmerksamkeit, denn schon bald soll auch ein neues MJ Lenderman Studioalbum folgen, dann auch auf dem renommierten Indie-Label Anti-Records. (7,9 Punkte)

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MJ Lenderman - You Have Bought Yourself a Boat (Live) | Bild: MJ Lenderman (via YouTube)

MJ Lenderman - You Have Bought Yourself a Boat (Live)

Juliana Hatfield - Juliana Hatfield Sings ELO

Es ist nicht das erste Mal, dass die ehemalige Lemonheads-Bassistin ein ganzes Album einer Band bzw. einer Künstler*in widmet. Vor dem Electric Light Orchestra waren es The Police und Olivia Newton-John, die von Juliana Hatfield gecovert wurden. Auf ihrer Bandcamp-Seite verrät die ehemalige College-Rock-Ikone auch, warum gerade ELO sie so faszinieren: „ELO songs were always coming on the radio when I was growing up. They were a reliable source of pleasure and fascination …”, so Juliana Hatfield. Vor allem die Songs, die sich mit Einsamkeit, Entfremdung, dem Outerspace beschäftigten, hatten es ihr angetan. Für ihr neues Album hat Hatfield jetzt genau diese Songs, die im Original nur so strotzen vor musikalischen Gimmicks, runtergestrippt, hat den produktionstechnischen Overload, alle Streicher, Synthesizer und Chöre mehr oder weniger eliminiert und sich die Songs von Jeff Lynne zu eigen gemacht. Und das ist ihr erstaunlich gut gelungen. Mein Favorit aus dieser waghalsigen Versuchsanordnung ist „Can’t get it out of my head”. Aber selbst der unvermeidliche Elo-Knaller „Don’t bring me down“ wirkt bei Juliana Hatfield angenehm unaufgeregt, klingt nach sympatischem 90’s Indie-Stuff und weniger nach 70’s Bombast-Pop. (7,8 Punkte)

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Juliana Hatfield - Can't Get It Out of My Head (Official Video) | Bild: American Laundromat Records (via YouTube)

Juliana Hatfield - Can't Get It Out of My Head (Official Video)

Madness - Theatre Of the Absurd Presents C'Est La Vie

Apropos 70’s – bereits 1976 haben sich in Camden, im Norden Londons, Madness gegründet und existieren, mit Unterbrechungen (1986–1992), bis heute. Die britische Ska-Band ist in ihrer Heimat, und nicht nur dort, eine Ikone, ein in coole Anzüge gegossenes Pop-Heiligtum. Nur noch mal kurz zur Erinnerung: Die ersten 20 Madness-Singles erreichten alle die Top 20 der britischen Charts – ein Erfolg, den noch nicht einmal die Beatles, Elvis Presley oder Cliff Richard vorweisen können. Und Madness sind unverwüstlich, the unstoppable ska machine. 47 Jahre nach ihrer Gründung erscheint jetzt ihr 13. Studioalbum „Theatre Of the Absurd Presents C'Est La Vie“. Selbst produziert und geprägt von den verrückten Zeiten, in denen wir leben, so Keyboarder Mike ‘Barso’ Barson, ein Album “about these crazy times we’re living in, and how I just want to stay on my boat and not be a part of all this madness. But of course, I’m a member of a group called Madness. Perhaps we should have called ourselves ‘Sanity’...”

Ohne Hits wie „Our house“ oder „It must be love“ und erst recht ohne ein „One step beyond“ – aber mit vierzehn Popkrachern im Madness-Style. Das Saxophon klingt manchmal etwas erschöpft, die Keyboards cheesy, aber ihren Humor haben Madness nicht verloren. (7,4 Punkte)

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Madness - C'est La Vie (Official Audio) | Bild: Madness (via YouTube)

Madness - C'est La Vie (Official Audio)

Julie Byrne – Laugh Cry Laugh

Leider kein Album, das letzte, „Greater wings“, erschien im Juli dieses Jahres, nur eine schlanke, aber wunderschöne EP ist „Laugh Cry Laugh”. Die US-amerikanische Singer/Songwriterin Julie Byrne meditiert hier vier Songs lang über Themen wie verpasste Chancen oder die Schönheit der Langsamkeit. Überhaupt driften die Songs von Julie Byrne so langsam und ruhig dahin, dass man sich sowieso sofort mit ihnen aufs Sofa legen und wegbeamen möchte. Das mag an den elegischen, an Joanna Newsom erinnernde Harfenklänge liegen. An den schwebenden Synthies. Oder am zarten Fingerpicking, das Julie Byrne von ihrem Vater übernommen hat, der leider an MS erkrankt ist, nicht mehr Gitarre spielen kann, aber diese Gabe an seine Tochter weitergegeben hat. „Laugh cry laugh“ ist sanft dahingleitender Indie-Folk, so leicht und warm wie eine kuschlige Mohair-Decke. (8,1 Punkte)

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Velocity! What About The Inertia!? | Bild: Julie Byrne - Topic (via YouTube)

Velocity! What About The Inertia!?

A08 - Waiting for Zion

Von München geht’s jetzt nach Berlin zu einem Duo, das schon immer gern die Grenzen elektronischer Musik ausgetestet hat. Dirk Leyers und Hans Raabe aka DJ Nomad waren früher Africaine 808, ein spannendes Afrolectro-Projekt zwischen House und afrikanischer Rhythmuskultur, zehn Jahre lang erfolgreich auf Tour, mit Remixen u.a. für Tony Allen und Amadou & Mariam. Mittlerweile nennen sich die beiden allerdings nur noch A08.

Wie schon zu Africaine 808-Zeiten ist Dirk Leyers und DJ Nomad nach wie vor ein klarer Mix sehr wichtig. Auch als A08 wollen sie genau die Schnittstelle zwischen elektronischer und afrikanischer bzw. jetzt auch karibischer Musik, Jazz und Reggae bedienen. Eine gewisse weltmusikalische Rawness fehlt da ganz bewusst, alles wirkt sehr sauber ausproduziert. Das gilt auch für „Waiting for Zion“, ihrem Debüt als A08. Ein super abwechslungsreiches Album mit Gästen aus Kolumbien, Ghana, Kenia, Trinidad und Deutschland. Ein grandioser Hybrid zwischen Afro-Electro, Digi-Dub, Soul- und Jazz-Momenten. Eine tolle, sehr konzentrierte Platte, komplex, aber ohne eine einzige überflüssige Note. Mit Tracks, die auf dem Dancefloor laufen können, die ich mir aber auch gern zuhause anhöre. (8,1 Punkte)

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A08 - Sunset | Bild: Compost Records (via YouTube)

A08 - Sunset

Os Barbapapas - Enigma

„Enigma“, das zweite Album des brasilianischen Jazz-Quartetts Os Barbapapas überrascht mit wunderbar psychedelischer Tropicalia und, als Specialguest, mit der Glasharfe. Was war gleich wieder die Glasharfe? Die Glasharfe, das sind mit Wasser gestimmte Gläser, deren Sound von den Brasilianern durch ein Wah-Wah und andere Effektgeräte gejagt wird. Dank diesem sehr speziellen Mix haben Os Barbapapas auch schon etliche Fans in Deutschland. Allen voran Pedro Goncalves Crescenti von International Music bzw. den Düsseldorf Düsterboys. Crescenti, aufgewachsen in einem deutsch-brasilianischen Haushalt, war es auch, der Os Barbapapas auf einer Reise durch Brasilien entdeckt und an ein Label in Deutschland vermittelt hat, an Fun in the Church, dem Staatsakt Sublabel. Von Crescenti stammt auch die sehr treffende Os Barbapapas-Beschreibung: “Tropicalia meets Exotica. Space meets Desert. Surf meets Western.“ Und wer jetzt noch, so wie ich, hier Khruangbin im luftigen Outer Space hört, liegt sicher auch nicht ganz falsch. (8,3 Punkte)

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Os Barbapapas - Se Liga na Sequencia (music video) | Bild: Os Barbapapas (via YouTube)

Os Barbapapas - Se Liga na Sequencia (music video)

Black Gain

Mein Favorit auf „Neuronautique“ heißt “Octophobic”. Und schon wieder was dazugelernt. Denn „Octophobic“, sagt Dr. Google, ist eine Person, wenn sie Angst vor der Zahl 8 hat. Aber das ist nicht die einzige Angst, die Black Gain zu quälen scheint. Ein unperfektes Album zu veröffentlichen gehört offensichtlich auch zu ihren Urängsten. Wie sonst lässt sich erklären, dass Black Gain für ihr Debütalbum vier, vielleicht aber sogar 15 Jahre gebraucht haben. Jetzt ist es auf alle Fälle da: „Neuronautique“, die erste gemeinsame Platte von Martin „Mortel“ Peter und Zündfunk-Kollege Flo Schairer. Quasi ein Best Of ihres bisherigen gemeinsamen Schaffens. Düster treibende Elektronik-Klänge und dazu ein hypnotisch monotoner Sprechgesang, ein Sound zwischen dunklem Club und wildem Segeltörn. (7,5 Punkte)

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BLACK GAIN "PAINKILLER" | Bild: Martin Peter / Black Gain /  Pjøre Axt / Atomic CC (via YouTube)

BLACK GAIN "PAINKILLER"

Jaakko Eino Kalevi

Eben noch wollte ich Jaakko Eino Kalevi bemitleiden, ob der ewigen Dunkelheit, mit der die Finnen im Winter klarkommen müssen … da lese ich, dass Kalevi nach Athen gezogen ist. Kein Wunder, dass der ein oder andere Song auf seinem neuen Album „Chaos Magic“ regelrecht sonnendurchflutet klingt. Dazwischen gibt’s aber auch immer wieder dunklere, sehr eklektische Töne, wavigen Synth-Pop, spacigen Easy-Listening, Italo-Disco und kosmischen Krautrock. Geschrieben hat Kalevi die Songs an verschiedenen Orten in Europa, bei Künstlerresidenzen in Genf und Estland. Und in Studios in Berlin und auf der griechischen Insel Hydra. Laut Jaakko Eino Kalevi ein „Back to the roots“-Album. Inspiriert von seiner neuen Heimat und dem griechischen Wort „kháos“, das, laut Wörterbuch, „einen Abgrund oder eine Leere bedeutet, die entstand, als Erde und Himmel getrennt wurden". Das muss man ihm lassen, diesen Abgrund weiß der Finne elegant zu umschiffen … und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat jeder seiner Songs einen düsteren, geheimnisvollen Unterton. Was „Chaos Magic“ nur umso aufregender macht. (7,9 Punkte)

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Jaakko Eino Kalevi & Faux Real - Hell & Heaven (Official Video) | Bild: Jaakko Eino Kalevi (via YouTube)

Jaakko Eino Kalevi & Faux Real - Hell & Heaven (Official Video)