ARLO PARKS – My Soft Machine (Transgressive)

Arlo Parks heißt die preisgekrönte Londonerin, die in England für ihre beiden Alben sowohl den BRIT Award als auch den Mercury Prize einheimste und in den USA für Grammys nominiert war. Auf „My Soft Machine“, ihrem zweiten Album, das wieder Pop & Soul verbindet, geht es um persönliche Probleme wie eine posttraumatische Belastungsstörung, Drogenmissbrauch und ihre erste Trennung. Die rein schüchterne Arlo Parks vom Debüt gibt es nicht mehr so oft zu hören: mal überrascht sie mit Dance-Beats, mal rocken die Gitarren, mal haucht die Stimme von Duett-Partnerin Phoebe Bridgers – „My Soft Machine“ ist mehr Pop als das noch vom Songwritertum geprägte Debüt. Stellenweise kommt es schon sehr glatt, sehr smooth daher. (7,5 von 10 Punkten)

WATER FROM YOUR EYES – Everyone´s Crushed (Matador)

Disparater Indie-Rock aus New York, mit viel Lust am Zerfasern und den Rock immer kleiner werden lassend. Bis es ein Pop-Experiment ist. Water From Your Eyes (WFYE) sind das Ex-Pärchen Rachel Brown (they/them) und Nate Amos (he/him), die 2016 in Chicago mit Musik loslegten. Nate hatte seiner damaligen Freundin Rachel New Order vorgespielt und sie beide dann entschieden, eine „Sad Dance Band“ zu gründen. WFYE klingen ein wenig kantiger, wuchtiger als ihre Labelmates von bar italia, die diese Woche „Album der Woche“ im Zündfunk / Bayern2 sind. Wenn Rachel will, kann es auch ganz „hittig“ werden: „True Life“, „Out There“ und „Barley“ – das sie „eine verstümmelte Übertragung“ nennen: Rachel singt „one two three/counter/you´re a cool thing count mountains“.
Textlich geht es um gesellschaftliches Unbehagen, das sie am Ende der Pandemie erlebten, „wie Kapitalismus und Establishment-Politik wieder auf Hochtouren liefen“. Sind wir froh, nach zwei Kassetten, einem Cover-Album und zwei LPs nun dieses Album hören zu können: Nate hat nach der Trennung mithilfe von Rachel seine Drogensucht in den Griff bekommen. WFYE dürften mit ihren Noise-Schüben, die auf Melodie-Momente folgen, auch Fans von Sonic Youth gefallen. Am Ende schlagen Neo-Klassik und ein runtergestrippter Raincoats-artiger Song weitere, überraschende Haken. Schräg, schön unberechenbar. (8,5 von 10 Punkten)

KEVIN MORBY – More Photographs A Continuum (Dead Oceans)

Der US-Indie-Folkie mit einem gelungen-melancholischen Nachtrag/Nachschlag zu seinem letzten, ohnehin schon nachdenklichen Album „This Is A Photograph“. Es war seine zurück-in-die-Heimat-Platte: der Vater wurde krank – nun geht es ihm besser. Morbys Besuch in der Vergangenheit ging tiefer als gedacht. Bald hatte er das Gefühl, dass er mit dem Thema doch nicht durch sei: „bevor ich mich thematisch weiterbewegen kann, müssen erstmal diese Songs raus.“ Schön für uns Fans, dass seine Besuche am Mississippi, bei Stax Records oder auf Elvis´ Graceland nachhallen. Morbys Anhang-Album klingt aber nicht nach Anhang. Die sechs neuen Stücke, plus Bearbeitungen vom Original-Album, sind wirklich fein geworden. Es geht um die Kindheit, ums Herumfahren, um Tennessee und gebrochene Herzen. Schon bald kommt ihr beiden „This Is A Photograph“ Alben zu uns: am Donnerstag den 15.6. beginnt seine dreitägige Deutschlandtour im Münchner Strom Club. (8,0 von 10 Punkten)

PETER FOX – Love Songs (Warner)

Es dürfte eine der wichtigsten Veröffentlichungen im deutschen Pop-Jahr werden: "Love Songs" von Peter Fox. Vor 25 Jahren startete der Berliner mit seiner Band Seeed und machte jamaikanischen Dancehall-Sound populär, den sie mit deutschsprachigem Hip-Hop verbanden: „Dickes B“ hieß ihre Stadthymne. 2008 erschien sein erstes Solowerk „Stadtaffe“ – bis heute dank der Hits „Alles Neu“, „Haus am See“, „Schüttel deinen Speck“ und Schwarz zu Blau“ rund 400 Millionen mal gestreamt. Nach 15 Jahren Pause nun sein zweites Soloalbum: auf "Love Songs" findet sich auch „Zukunft Pink" feat. Inéz, das 2022 im südafrikanischen House-Stil „Amapiano“ daherkam und Diskussionen über kulturelle Aneignung erzeugte. Begonnen hat das Projekt als geplante EP mit Trettmann, der dann aber ausstieg. Fox machte weiter und so erwuchs mit dem Produktionsteam the Krauts "Love Songs" - teilweise wieder im typischen Dancehall-Stil, für den man Peter Fox/Seeed kennt. Überraschungs-Gast ist Adriano Celentano – das kam, nachdem Fox eine Zeitlang in der Toskana aufgenommen hat. Anspieltipps: "Tuff Cookie", "Gegengift". (7,5 von 10 Punkten)

KASSA OVERALL – Animals (Warp)

Mit seiner letzten Platte I Think I´m Good war der US-Jazz-/Hip-Hop-Musiker im Bayern2 Zündfunk „Album Der Woche“. Der Nachfolger von Kassa Overall, MC/Drummer, der aus New York wieder nach Seattle zurückzog, klingt intensiv bis intim. Kein Wunder: er verarbeitet reichlich psychische Probleme auf der Platte, die Animals heißt. Overall, der mit Rapper Macklemore in einer Musikklasse war und mit Yoko Ono und Marc Ribot arbeitete, fährt diesmal Features mit den Rappern Danny Brown und Shabazz Palaces, Neo-Soulerin Laura Mvula oder Jazz-Trompeter Theo Croker auf. Am Samstag wird er mit Judith Schnaubelt im Zündfunk/Bayern2 eine Stunde seine Lieblingsplatten auflegen – von Jazz über Reggae bis zu den Beatles. (8,5 von 10 Punkten)

KOSMO KINT - Groove Religion (Toy Tonics)

Berlin, du hast es besser. Der Zuzug an internationalen Acts hält an. Kosmo Kint nennt sich der afroamerikanische Sänger und Musiker, der nun beim Toy Tonics-Label von Mathias Modica, dem Münchner Tausendsassa in der Hauptstadt, angedockt hat. Der houseige Titeltrack „Groove Religion“ hat das Zeug zum Hit – zusammen mit dem zwei-steppigem „Only Gets Better“ sollte das echtes DJ-Futter und Bereicherung der Clubmusik sein, auch dank seiner R´n´B-/Soul-Stimme. Es ist zwar sein Debüt, er sang davor aber schon bei einigen Tracks des Labels und der House-King David Morales hat ihn geremixt. Und schon wurde er vom Melt!Festival gebucht. Talent! (7,5 von 10 Punkten)

MATTHEW HERBERT x LONDON CONTEMPORARY ORCHESTRA - The Horse

Der britische Konzept-Klang-Künstler weigert sich, reguläre Sounds aus dem Computer zu benutzen. Ihn reizen Klänge aus Alltagsgegenständen, Dingen wie Holz, Lebensmittel, Schweinefleisch, Haut, Haar … Wie der Titel schon sagt, stammt ein Teil der Sounds der neuen Platte aus Geräuschen, die vom Pferd kommen: mit Pferdehaut bespannte Trommeln, Pferdeknochen-Flöten, eine Leier aus Pferdedarmseiten. Ein komplettes Pferdeskelett und ein ganzes Orchester stand ihm zur Verfügung. Dazu lud er noch über 6000 Pferde-Klänge aus dem Netz. Geht ihm der Gaul durch? Schon einmal beschwerte sich die Tierschutz-Organisation PETA, als er Sounds aus dem Leben eines Schweines als Sample-Vorlage für seine experimentelle, elektronische Musik zu benutzen. Dabei will Matthew Herbert unseren Konsum hinterfragen, unsere Essensgewohnheiten und unser Gehör schärfen – für den Alltag und seine Geräusche, die wir meist überhören. Geholfen haben der Jazzer von den Sons of Kemet und Kokoroko. (7,5 von 10 Punkten)

SPARKS – The Girl Is Crying In Her Latte (Island)

Wie machen sie das in ihrem Alter? Nach ihrem Musical „Annette“ schütteln Ron und Russell Mael, die exzentrischen Brüder des US-Pop, wieder ihre überdrehten Glam-Songs aus dem Ärmel. Und gewinnen für das Video zum Titelsong Cate Blanchett, die sich vor der Kamera einen abtanzt. Und wir fragen uns: wer mag das Mädchen gewesen sein, das die Sparks meinen? Wir sind es alle, singen sie.
Mit „The Girl Is Crying In Her Latte“ kehren sie nach knapp 50 Jahren wieder zu Island zurück, wo sie 1974 ihre berühmte „Kimono My House“ LP rausbrachten, inklusive ihres ersten Hits „This Town Ain´t Big Enough For Both Of Us“. Auch „Veronica Lake“ ist ein völlig eigener Song, er erinnert an den Minimal-Sound von Steve Reich – gekreuzt mit über emotionalen Sparks-Pop. Es geht um die irisch-deutsche Schauspielerin Veronica Lake, die in den 1940 und 1950ern in Hollywood bekannt war, aber mit 50 an Leberzirrhose starb. Schicksale der Filmwelt haben es den Beiden schon immer angetan. Die sehenswerte Kino-Doku über sie - „The Sparks Brothers“ von 2021, kann man inzwischen auch im Stream sehen. Darin verbeugen sich unter anderem Franz Ferdinand und New Order vor ihnen. Taylor Swift und Lana Del Rey Producer Jack Antonoff sagt über sie: „Pop ist heute neu arrangierte Sparks Musik“. Die Brüder wissen aber auch wie das Biz läuft: „Nothing Is As Good As They Say It Is“ heißt die neue Single. Am 18. Juni stellen die Kalifornier ihr sechsundzwanzigstes Studioalbum in Berlin im Tempodrom vor: Generationenverbindender Synthie-Pop/Electro-Disco/Art Rock. „When Do I Get to Sing ´My Way´?“ wird sicher als Zugabe dabei sein. Gefolgt von einer Welttour –und das im Altern von 74 und 77 Jahren. Und danach wartet schon wieder ein Musical-Soundtrack auf sie. Unfassbar. (8,0 von 10 Punkten)

TRIBEZ. - Redbird

Die Regensburger Funk & Soul-Instrumental-Band war mit ihrer ersten EP „Paragon“, 2020 schon „Album Der Woche“ im Zündfunk. Nun folgt das eigentliche Debüt der Live-Band vieler deutscher Hip-Hopper wie Antilopen Gang, Max Herre oder Joy Denalane. Oder Samy Deluxe, Fatoni und Megalog. Oder oder oder. Auch ihre eigenen Loop Sessions sind weit über die Hip-Hop-Genre-Grenzen bekannt - damals noch als Tribes of Jizu. Auf „Redbird“ holen sich aber lieber unbekanntere Namen ans Mikro: Ric Wilson, Wun Two, Quelle Chris (USA), J. Lamotta (Israel) und JuJu Rogers. Sprich: nehmen sich eher vornehm zurück, als sich nach vorne zu spielen. Im Zündfunk Interview am Freitag den 26. Mai wird die Frage geklärt, ob etwas am Vergleich „Tribez. sind die deutschen The Roots“ hinkt. (7,5 von 10 Punkten)

KRUDER x DI GIOIA "--------"

Peter Kruder wurde in den 1990ern als eine Hälfte des Wiener Downbeat Duos Kruder & Dorfmeister weltberühmt, der Münchner Roberto di Gioia ist sonst gern gesehener Gast bei Udo Lindenberg, Max Herre oder Till Brönner. Zu zweit arbeiteten sie bereits als musikalische Masterminds der letzten beiden Alben von DJ Hell. An einer Stelle klingt das erste Album des österreichisch-deutschen Duos auch kurz nach einem Stück von einem Hell-Album: bei der tollen, spinett-artigen Single „Bella Arp“. „Man muss nicht unbedingt viel reden, wenn man zusammen Musik macht“, sagen die Beiden und jammen weiter. In mehreren Sessions entstand Instrumental um Instrumental, die sicher fälschlicherweise in Neo-Klassik-Playlists landen werden. Neo-Klassik trifft es nämlich nicht. Außer beim Stück „Rache“, das dort auch hingehört und gestreamt werden will. „--------“ ist eher an Ambient, Avantgarde und Minimal angelegt, fließt mehr, hat mehr vom Kino- als Konzertsaal. „Clock Tick Tock“ erinnert nicht nur vom Titel an das hypnotisch pluckernde „Tick Of The Clock“ der Chromatics für den Film „Drive“. „Lonely Jupiter“ oder „Meteoriten Schluckauf“ könnten aus einem Sci-Fi-Soundtrack stammen: Robertos Klavier wird durch Peters Elektronik-Universum geschickt. Man will das Album lieber im Sitzen in einem Konzertsaal als stehend in einem Club hören. Oder noch besser: liegend in einer Chill-Out-Area. Frage und Klage: Warum gibt es heute in den Techno-Clubs keine Chill-Out-Nebenräume mehr? Ein Album, wie eine eigene Welt. (7,5 von 10 Punkten)

CRUCCHI GANG – Fellini (Vertigo)

Francesco Wilking mit dem zweiten Werk seiner selbst übersetzten Italo-Covers. Diesmal hat der Sänger der Berliner Band „Die Höchste Eisenbahn“ folgende deutschsprachige Hits ins Italienische übertragen: Joachim Witts NDW-Schlager „Goldener Reiter“ heißt „Cavaliere d´argente“, aus Tocotronics „Im Zweifel Für Den Zweifel“ wird „In dubbio per il dubbio“ oder aus Reinhard Meys „Gute Nacht Freunde“ „Buonanotte amici“. Auch deutsch-sprachige Lieder von Maike Rosa Vogel, Tristan Brusch und Von Wegen Lisbeth werden nun auf Italo Disco-Kurs geschickt - oder zumindest zum berühmten Sanremo Festival della Canzone Italiana. (7,0 von 10 Punkten)