Wer nach Fossilien gräbt, ist ja meistens froh, wenn er wenigstens Stücke von versteinerten Knochen findet. So geht es auch den Paläoanthropologen, die seit 15 Jahren in Äthiopien graben. Bis heute haben sie 230 Überreste gefunden, die man den Hominini (Menschenaffen) zuordnen kann, zu denen auch wir Menschen (Homo sapiens) und der Neandertaler gehören.
Umso außergewöhnlicher war der Fund, den das internationale Forscherteam am 10. Februar 2016 im zentralen Afar-Dreieck im nördlichen Äthiopien machte: Ein lokaler Mitarbeiter entdeckte ein gut erhaltenes, fast vollständiges Oberkiefer-Fossil. Das allein wäre schon eine Sensation genug gewesen, aber kurz danach spürten die Forscherinnen und Forscher auch noch den Rest des etwa faustgroßen Schädels auf.
"Ich traute meinen Augen kaum, als ich die Überreste des Schädels gesehen habe. Es war ein Heureka-Moment, es ist ein Traum wahr geworden." Prof. Yohannes Haile-Selassie, Leiter der Abteilung Physische Anthropologie am Cleveland Museum of Natural History, USA
3,8 Millionen Jahre altes Australopithecus-Fossil
Nun konnte das Alter des Fossils bestimmt werden. Dazu wurden Ablagerungen von Mineralien untersucht, die sich in Vulkangestein der näheren Umgebung befanden: 3,8 Millionen Jahre alt ist der Schädelknochen. Damit steht fest: Es ist der Überrest eines Vormenschen der Art Australopithecus anamensis, deren Vertreter noch eher wie Schimpansen als wie Menschen aussahen. Sie gehörten zu den ältesten Vertretern der Australopithecinen (wörtlich: "südliche Affen") und zu unseren direkten Vorfahren. Gelebt haben sie vor rund 4 Millionen Jahren in Ostafrika.
Noch nie zuvor wurde von Australopithecus anamensis ein vollständiger Schädel gefunden, sondern nur Knochenfragmente und Zähne. Dieser Fund ermöglichte es, im Computer eine möglichst naturgetreue Rekonstruktion des Gesichts zu erstellen:
"Er hat eine Mischung aus primitiven und weiterentwickelten Gesichts- und Kopfmerkmalen, die ich so nicht bei einem einzelnen Exemplar erwartet hätte." Prof. Yohannes Haile-Selassie, Cleveland Museum of Natural History, USA
Manche Merkmale glichen eher denen von jüngeren Vormenschen-Arten, andere erinnern an viel ältere.
Überlappende Australopithecus-Arten in Ostafrika
Überraschend für die Forscherinnen und Forscher: Die Datierung des Fossils auf 3,8 Millionen Jahre zeige, dass Australopithecus anamensis rund 100.000 Jahre gemeinsam mit seinem Nachfahren Australopithecus afarensis gelebt hatte. Zu Australopithecus afarensis gehört auch das berühmte Fossil "Lucy".
"Wir sind bislang davon ausgegangen, dass Australopithecus anamensis sich über einen langen Zeitraum hinweg in Australopithecus afarensis entwickelt hat. Wir gehen zwar immer noch davon aus, dass sie Vor- und Nachfahr voneinander gewesen sind, aber wenn sie gemeinsam gelebt haben, verändert das unseren Blick auf die Evolution dieser Arten." Dr. Stephanie Melillo, Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Das werfe neue Fragen auf, zum Beispiel die, inwieweit die beiden Arten um Nahrung und Lebensraum konkurriert haben könnten. Unklar bleibt aber auch, ob diese Frage geklärt werden kann. Denn sie beruht darauf, dass die Datierung des ältesten Funds eines Australopithecus afarensis auf 3,9 Millionen Jahre richtig ist. Schon länger wird angezweifelt, dass das stimmt.
Überleben in einem veränderten Klima
Die Fundstelle in Äthiopien ist nicht nur für Anthropologen interessant. Paläoökologen interessieren sich auch für die Lebensumstände der Vormenschen. Der Fundort des Australopithecus anamensis erzählt einiges über die Umwelt vor rund 4 Millionen Jahren: Damals mündete dort ein Flussdelta in einem See. Wahrscheinlich entsprang der Fluss im Äthiopischen Hochland.
"Dieser Vormensch lebte an einem See, der von einer sehr trockenen Region umschlossen war. Wir sind gespannt, was wir noch darüber lernen, wie sich der Klimawandel auf die Evolution des Menschen in dieser Region ausgewirkt hat." Ass. Prof. Naomi Levin, Universität von Michigan, USA
Nur Homo sapiens hat überlebt
Die Australopithecinen zählen noch nicht zu den Menschen, erst die Arten "Homo" gehören dazu. In der Frühzeit der Menschwerdung gab es zahlreiche Menschenarten, die bekannteste ist sicher der Neandertaler, doch auch Denisova-Menschen, Homo luzonensis, Homo naledi, Homo floresiensis, Homo habilis oder auch Homo erectus.
Die Suche nach ausgestorbenen Menschenarten hat sich durch moderne Verfahren wie die Genanalyse vereinfacht. So kann man mittlerweile auch Fossilien vergleichen, die weit voneinander entfernt gefunden wurden.
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B5 Wissenschaftsnachrichten vom 31.08.2019 - 08.15 Uhr