Eine Mutter liest ihrem kleinen Sohn aus einem Kinderbuch vor.
Bildrechte: picture alliance/JOKER/Fotograf: Gudrun Petersen

Die Lesekompetenz von Jungen weist Defizite auf.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Vorlesetag: Jungen lesen andere Bücher als Mädchen

Buben lesen nicht nur weniger, sie lesen auch anders als Mädchen: Sie bevorzugen Heldengeschichten mit Action, weniger Charaktere zum Einfühlen. Beim Vorlesen werde das oft zu wenig berücksichtigt, sagen Experten. Eine Benachteiligung mit Folgen.

Jungen lesen nicht nur weniger als Mädchen, sie lesen auch anders, sagt Wolfgang Tischner, Erziehungswissenschaftler an der Technischen Hochschule Nürnberg, anlässlich des bundesweiten Vorlesetags, der am 15. November stattfindet. In Kitas und Schulen werde dieser Unterschied viel zu wenig berücksichtigt, kritisiert er. Nicht nur Rollenvorbilder fehlten dadurch den Jungen. Auch der Spaß und die positiven Effekte des Lesens gingen dadurch verloren, mahnen Experten.

Jungs mögen Action und Bilder

Laut der aktuellen KIM-Studie aus dem Jahr 2018, einer Basisuntersuchung zur Mediennutzung, für die der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest 1.200 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren befragte, lesen fast 60 Prozent der Mädchen regelmäßig ein Buch, bei den Buben sind es nur rund 40 Prozent.

Während Mädchen gerne Geschichten lesen, bei denen sie sich in Charaktere einfühlen können, bevorzugen Jungs in der Regel Abenteuer- und Heldengeschichten mit viel Action. Auch Comics lesen Buben gerne. Generell bevorzugen sie Bücher, bei denen der Text mit Grafiken und Bildern aufgelockert ist. Bleiwüsten schrecken Jungen eher ab.

Keine Berücksichtigung in Kitas und Schulen

Die Vorliebe für bestimmte Bücher werde in Kitas und Schulen oft kaum berücksichtigt, sagt Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tischner aus Nürnberg. Dort würden Erzieherinnen und Lehrerinnen dominieren, die unbewusst eine eher weibliche Bücherauswahl treffen. Bei den Jungs präge sich dadurch ein: "Lesen ist weiblich", meint Tischner. Auch Erich Kriebel, stellvertretender Leiter der Kinderbibliothek in der Nürnberger Stadtbibliothek, bemängelt:

„In der Schule, in der Buchhandlung, in der Bibliothek - überall, wo Jungs mit Büchern in Kontakt kommen, sind hauptsächlich Frauen.“ Erich Kriebel, stellvertretender Leiter der Kinderbibliothek in der Nürnberger Stadtbibliothek

Ein Drittel der Buben hat keinen Spaß am Lesen

Die Dominanz von Frauen - sowohl bei der Auswahl der Bücher als auch in Bibliotheken - hinterlässt bei den Jungen nach Ansicht von Erich Kriebel Spuren.

"Etwa ein Drittel der Jungen sagt am Ende der Grundschule, dass Lesen langweilig ist und keinen Spaß macht." Erich Kriebel, stellvertretender Leiter der Kinderbibliothek in der Nürnberger Stadtbibliothek

Ein Teufelskreis, denn Lesen will geübt sein. "Das ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss", sagt Sascha Schroeder, Leiter der Abteilung für Pädagogische Psychologie an der Universität Göttingen.

Jeder zweite Vater liest zu selten vor

Neben dem Lesen ist auch Vorlesen für den späteren Erfolg in der Schule entscheidend. Das zeigen Daten aus der seit 2007 jährlich erhobenen Vorlesestudie: Vier von fünf Kindern, denen regelmäßig vorgelesen wurde, falle das Lesenlernen später in der Grundschule leicht.

In der aktuellen Vorlesestudie, die Anfang November 2019 veröffentlicht wurde, gaben 32 Prozent der insgesamt 700 befragten Mütter und Väter an, ihrem Kind höchstens einmal die Woche oder nie vorzulesen. Besonders Väter lesen laut der Erhebung zu selten ihren Kindern im Alter zwischen zwei und acht Jahren vor. Bei ihnen ist es jeder zweite, der höchstens einmal pro Woche den Sprößlingen vorliest, bei den Müttern nur knapp jede dritte (27 Prozent).

Teils liege das an Familienstrukturen, teils am Rollenverständnis, kommentiert Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der "Stiftung Lesen", die aktuellen Zahlen. Sie appelliert:

"Die Väter sind elementar wichtig als Lesevorbilder und Impulsgeber, vor allem für Jungs, die in einer Lesewelt aufwachsen, die nach wie vor eher weiblich dominiert ist." Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der "Stiftung Lesen"

Wie Kinder vom Vorlesen profitieren

Neben der Bedeutung des Vorlesens für spätere schulische Erfolge verweist die "Stiftung Lesen" aber auch auf die "längerfristige soziale Bedeutung" des Vorlesens: Wurde Kindern regelmäßig vorgelesen, seien diese häufiger darum bemüht, andere in die Gemeinschaft zu integrieren. Auch sei der allgemeine Gerechtigkeitssinn dieser Kinder besonders ausgeprägt. Dies hätten frühere Studien gezeigt, heißt es seitens der Stiftung.

Die "Stiftung Lesen" empfiehlt: 15 Minuten täglich vorlesen

15 Minuten - so lange sollten Eltern ihren Kindern täglich vorlesen, empfiehlt die "Stiftung Lesen". Dabei sei der Begriff des Vorlesens weit zu fassen. Vorlesen, dazu gehöre eben auch, Bilder in einem Buch anzuschauen und Geschichten dazu zu erzählen, aus Zeitschriften oder Comics vorzulesen oder Babys ein Wimmelbuch ohne Text zu zeigen, sagt Simone Ehmig.

Vor allem beim Vorlesen förderten Eltern das Sprachvermögen und damit die spätere Lesekompetenz ihrer Kinder, sagt auch Psychologe Sascha Schroeder.

"Wichtig ist nicht unbedingt der Inhalt der Bücher, sondern die Gespräche über das Gelesene, also der Umgang mit Sprache und die Reflexion." Sascha Schroeder, Leiter der Abteilung für Pädagogische Psychologie an der Universität Göttingen

Um das Vorlesen leichter in den Alltag zu integrieren, stellt die "Stiftung Lesen" gemeinsam mit der "Deutsche Bahn Stiftung" eine kostenlose App zur Verfügung. In "Einfach vorlesen!" gibt es jede Woche eine neue Geschichte für verschiedene Altersgruppen, heißt es dort auf der Webseite.

Bundesweiter Vorlesetag

Der bundesweite Vorlesetag wurde 2004 von der Wochenzeitung "Die Zeit", der "Stiftung Lesen" und der Deutschen Bahn ins Leben gerufen. Er soll die Begeisterung für das Lesen und Vorlesen wecken und Kinder bereits früh mit dem geschriebenen und erzählten Wort in Kontakt bringen.