Coronaviren in künstlerischer Darstellung.
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Zahlen und Statistiken über das Coronavirus werden von Pandemie-Leugnern und -Verharmlosern als vermeintliche Beweise benutzt.

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#Faktenfuchs: Delta-Variante für Geimpfte nicht gefährlicher

Im Netz verbreitet sich die Behauptung, die Delta-Variante sei harmloser als andere Corona-Varianten, aber für Geimpfte gefährlicher als für Ungeimpfte. Als Beleg dienen Zahlen der englischen Gesundheitsbehörde PHE. Ein #Faktenfuchs.

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In England haben die Behörden einen sehr guten Überblick über die Verbreitung der verschiedenen Varianten des Coronavirus SARS-CoV-2. Wenn dort ein Test auf das Coronavirus positiv ausfällt, wird das Erbgut der Viren in der Probe deutlich häufiger sequenziert als in den meisten anderen europäischen Staaten. Mithilfe dieser Sequenzierung lassen sich unterschiedliche Varianten des Virus nachweisen.

Die englische Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) veröffentlicht regelmäßig aktuelle Daten zu neuen und besorgniserregenden Virusvarianten, die im Land kursieren. Diese Daten nutzen auch Wissenschaftler im Ausland, um die Ausbreitung einzelner Varianten zu verfolgen.

Die Daten des PHE werden aber auch von Pandemie-Verharmlosern und -Leugnern benutzt. Fakten aus offizieller Quelle sollen ihre Behauptungen scheinbar stützen und die Maßnahmen gegen die Pandemie diskreditieren. Dabei bedienen sie sich bekannter Methoden: Sie picken sich Zahlen wie Rosinen heraus, verschweigen aber den notwendigen Kontext, um die Daten korrekt einordnen zu können.

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Falschbehauptung 1: Delta-Variante ist harmloser als frühere Varianten

"Die Delta-Variante ist die harmloseste, die bisher identifiziert wurde. Sie ist harmloser als jede Grippe", ist beispielsweise in einem Beitrag auf der Website von Boris Reitschuster zu lesen.

Diese Behauptung will Peter F. Mayer, der Autor des Artikels, mit Zahlen der PHE (aus SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England: technical briefing, Ausgaben 16 bis 18) belegen. Dort sind tabellarisch die Zahlen der festgestellten Covid-19-Fälle und der dabei nachgewiesenen Virusvarianten aufgelistet. Außerdem werden die Zahl der Erkrankten, die verstorben sind, und die sogenannte Case Fatality Rate (CFR) für die einzelnen Virusvarianten ausgewiesen.

Die CFR gibt den Prozentsatz der Erkrankten an, die an einer Krankheit, hier Covid-19, gestorben sind. Menschen, bei denen eine Infektion mit dem Coronavirus symptomlos verläuft und oft unbemerkt bleibt, werden hier nicht zu den Erkrankten gezählt.

Auf den ersten Blick scheinen die Daten der PHE die Behauptung, die Delta-Variante wäre weniger tödlich als andere Coronavirus-Varianten, zu bestätigen. In Ausgabe 18 des PHE-Reports vom 9. Juli 2021 steht in der Spalte für Case Fatality Rate tatsächlich Alpha 1,9 Prozent, Beta 1,4 Prozent und Delta 0,2 Prozent.

Daten der Varianten laut PHE nicht miteinander vergleichbar

Im Artikel auf der Website von Boris Reitschuster fehlt allerdings eine entscheidende Information. Die PHE weist darauf im Text direkt vor der Tabelle hin und auch in einer Fußnote darunter: "Note case fatality rates are not comparable across variants." Also: Die Todesfall-Zahlen bei den Varianten lassen sich nicht miteinander vergleichen. Und zwar aus folgendem Grund: Die Varianten waren zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich weit verbreitet.

Die Delta-Variante breitete sich in Großbritannien erst aus, als ein großer Teil der Bevölkerung (und insbesondere der Risikogruppen) bereits geimpft und damit gegen schwere Krankheitsverläufe geschützt war. Auch die Behandlungsmöglichkeiten von Covid-19 haben sich im Laufe der Pandemie verbessert. Zudem war im Winter 2020/21, als noch die Alpha-Variante dominierte, das britische Gesundheitssystem so stark belastet, das nicht mehr alle Covid-19-Patienten so gut behandelt werden konnten, wie es derzeit der Fall ist.

Die im Vergleich zu anderen Varianten niedrigere Case Fatality Rate bei der Delta-Variante belegt also nicht, dass die Delta-Variante weniger gefährlich ist - sondern zeigt in Wirklichkeit den Erfolg der Impfungen in Großbritannien.

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Die Originaltabelle aus der Ausgabe 18 von "SARS-CoV-2 variants of concern ..." mit der für das Verständnis entscheidenden Fußnote 2.

Falschbehauptung 2: Doppelt-Geimpfte sterben häufiger als Ungeimpfte an der Delta-Variante

Die 18. Ausgabe des PHE-Reports enthält weitere Tabellen. Eine davon zeigt, wie viele Menschen, die mit der Delta-Variante infiziert waren, zwischen Anfang Februar und Ende Juni als Notfall versorgt werden mussten und/oder verstarben.

Angegeben ist auch, ob die Betreffenden einmal, zweimal oder gar nicht geimpft waren. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 123.620 Delta-Fälle nachgewiesen. 10.834 der Infizierten hatten bereits zwei Impfdosen erhalten, 71.932 waren hingegen ungeimpft. Von den Zweifach-Geimpften waren 118 verstorben, von den Ungeimpften 92. Impfgegner benutzen diese Zahlen für die Behauptung: Doppelt-Geimpfte sterben um ein Vielfaches öfter an der Delta-Variante als Ungeimpfte.

Auch hier handelt sich um eine Fehlinterpretation der Zahlen. Die scheinbar hohe Zahl von Todesfällen unter den Geimpften lässt sich mit Statistik und den folgenden beiden Tatsachen erklären. Erstens: Die Impfstoffe schützen nicht vollständig. Zweitens: Die Zahl der vollständig Geimpften steigt ständig.

Die Covid-19-Impfstoffe verhindern zu 66 bis 95 Prozent eine Erkrankung, wie Studien für ihre Zulassung ergaben. An diesen Studien nahmen allerdings hauptsächlich junge und gesunde Probanden teil. Menschen mit einem geschwächten Immunsystem und Ältere waren unterrepräsentiert. Diese haben aber ein erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken, deshalb wurden sie als Erste geimpft.

Bei ihnen wirken die Impfstoffe aber anscheinend nicht so gut wie bei Jungen und Gesunden. Das bedeutet: Trotz vollständiger Impfung werden sich weiter Menschen mit dem Coronavirus infizieren, an Covid-19 erkranken und auch sterben. Das gilt insbesondere für Menschen aus den Risikogruppen. Denn wer schwer krank und/oder alt ist, ist auch als vollständig Geimpfter stärker gefährdet als ein Mensch mit intaktem Immunsystem.

Auf der anderen Seite sind immer mehr Menschen vollständig geimpft und ihr Anteil in der Bevölkerung steigt. Damit erhöht sich auch die Zahl jener Geimpften, die sich trotz Impfung infizieren und in Folge erkranken und sterben. Die Ungeimpften hingegen stellen zwar derzeit die Mehrheit der Infizierten, denn sie stecken sich häufiger an (laut PHE infizierten sich Ungeimpfte unter 65 Jahre dreimal so oft wie Geimpfte in der gleichen Altersgruppe). Doch nur sehr wenige Ungeimpfte sterben an Covid-19, denn auch in Großbritannien sind es zu einem großen Teil jüngere Menschen, die (noch) nicht geimpft sind.

Daraus folgt: Je mehr Geimpfte es gibt, desto größer ist ihr Anteil an den Corona-Toten. Und umgekehrt: Wenn die Zahl der Ungeimpften sinkt, sinkt auch ihr Anteil an den Covid-19-Verstorbenen. Unabhängig davon schrumpft aber insgesamt die Zahl der Corona-Toten innerhalb eines bestimmten Zeitraums mit der Zeit, da die Impfungen in Großbritannien wie auch in anderen Staaten Wirkung zeigen.

Wie leicht sich aus den Prozentwerten einer Statistik der Corona-Toten falsche Schlüsse ziehen lassen, zeigt ein anschaulicher Vergleich von Christoph Rothe, Professor für Statistik an der Universität Mannheim, auf Twitter. Er überträgt ihn auch auf die Zahl der Corona-Toten: Im Vereinigten Königreich sind fast alle Delta-Todesfälle in der Altersgruppe über 50 Jahre. Diese hat eine Impfquote von rund 93 Prozent. Auf die rund sieben Prozent Ungeimpften über 50 Jahre entfallen also fast 60 Prozent aller Todesfälle.

Fazit

Die Daten der PHE, die von Corona-Verharmlosern angeführt werden, sind korrekt, werden allerdings ohne Kontext verwendet. Die Behauptung, die Delta-Variante sei weniger gefährlich, für Geimpfte aber tödlicher, lässt sich aus den Daten nicht schlussfolgern.

Erstens: Zahlen aus verschiedenen Phasen der Pandemie lassen sich nicht miteinander vergleichen. Denn je mehr Menschen gegen Covid-19 geimpft sind, desto weniger gefährlich ist das Coronavirus für die Gesamtbevölkerung. Welche Variante gerade kursiert, ist dabei zweitrangig.

Zweitens: Die Impfstoffe wirken nicht zu hundert Prozent. Wenn es viele Geimpfte gibt, gibt es auch viele, die sich trotz Impfung infizieren, erkranken und sterben. Der Anteil der Ungeimpften an den Corona-Toten sinkt nur scheinbar. Beim direkten Vergleich zeigt sich: Geimpfte sind deutlich besser vor einem schweren oder tödlichen Verlauf von Covid-19 geschützt als Ungeimpfte.

Disclaimer: Am 26.07.21, 07:48, wurde der Begriff "DNA-Sequenzierung" in "Sequenzierung" geändert; sequenziert wird das Erbgut der Viren. Beim Coronavirus SARS-CoV-2 handelt es sich dabei um RNA.

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