Ein Stahlarbeiter prüft den Roheisen am Hochofen auf einem Werksgelände.
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Ein Stahlarbeiter prüft den Roheisen am Hochofen auf einem Werksgelände.

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Krank oder gesünder als gedacht? Wie es um die Wirtschaft steht

Fachkräftemangel, Bürokratie, Zukunftsangst: Das alles schmerzt deutsche Unternehmen, aber geht es der Wirtschaft wirklich so schlecht? Führende Köpfe der Leibniz-Institute kommen zur Diagnose: Heilmittel gäbe es genug, aber gemeinsame Ziele fehlen.

Über dieses Thema berichtet: Wirtschaft am .

Wo man auch hinschaut, die Stimmung im Land scheint aktuell einen Tiefpunkt erreicht zu haben: Wirtschaftsverbände schreiben einen Brandbrief an die Politik und bitten dringend darum, eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln. Bei der Sicherheitskonferenz in München treten die offenen Flanken Europas deutlich zutage. Und der Unmut der Landwirte hält seit Wochen die Diskussion darüber am Laufen, wie weit Politik und Gesellschaft sich voneinander entfernt haben.

Bestandsaufnahme: Die Probleme sind bekannt

In dieser Gemengelage ist ein Format wie der Leibniz-Wirtschaftsgipfel eine sehr gute Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme. Zu der Gesprächsrunde treffen sich einmal jährlich die wissenschaftlichen Leiterinnen und Leiter der sieben großen Leibniz-Wirtschaftsinstitute der Republik. Dieses Jahr mit der Fragestellung: Wie krank ist die deutsche Wirtschaft – und was muss passieren, damit sie sich erholt?

Zur Bestandsaufnahme gehören die alten Bekannten: der Fachkräftemangel, der demografische Wandel und die viele Bürokratie. Aber es ist auch etwas Neues hinzugekommen. Viele Chefinnen und Chefs trauen sich derzeit nicht, in die Zukunft zu investieren, weil sie sich nach eigener Aussage nicht auf die Wirtschaftspolitik verlassen können. Das hatten gerade bei der Konjunkturprognose der bayerischen Industrie- und Handelskammern 64 Prozent aller Unternehmen angegeben. Diese Unsicherheit trübt den Blick in die Zukunft enorm ein.

Außerdem zeigen die Zahlen, dass derzeit mehr Unternehmen Insolvenz anmelden oder ihr Gewerbe abmelden, als dass es Neugründungen gibt. Hinzu kommt die fehlende Kaufkraft. Hier legen Untersuchungen des ifo-Instituts in München, das auch zur Leibniz-Gemeinschaft gehört, nahe, dass auch den Konsumentinnen und Konsumenten die Kaufanreize fehlen. Und das, obwohl die Inflation abgeschwächt ist und die Kreditzinsen sinken.

Trotz aller Krisen steht Deutschland sehr gut da

Aber: Gerade in der Wirtschaft sollte niemand jemals Psychologie und Stimmung als Entscheidungsfaktoren unterschätzen. Wenn viele jammern, dann fühlt sich die Situation schlechter an, als sie tatsächlich ist. Denn es gibt durchaus auch Positives zu vermelden aus der deutschen Wirtschaft: Trotz aller Krisen in den vergangenen Jahren steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ziemlich stabil da.

Nicht nur, weil der Arbeitsmarkt sich als äußerst robust erweist, sondern auch, weil der Export gut läuft. Deutschland belegt nach China und den USA weiterhin weltweit Platz drei der Exportnationen. Das, so Holger Görg, der das Kiel Institut für Weltwirtschaft (ifw) leitet, liege auch daran, dass Produkte "Made in Germany" wegen ihres Designs, ihrer Qualität und ihrer Innovationskraft nachgefragt sind. Damit das so bleibt, sei es jetzt entscheidend, dass auch die Akzeptanz neuer Technologien in Unternehmen und in der Bevölkerung steigt, so Görg beim Wirtschaftsgipfel.

Hinzu kommen noch einige Faktoren, die sich indirekt positiv auf die Wirtschaft auswirken. So zum Beispiel die schnelle Anpassungsleistung der Unternehmen an den Gas-Mangel im Winter 2022/23. Oder das weitgehend stabile Sozialsystem, die hohen Abschlüsse bei den letzten Lohn-Tarifrunden, aber auch eine Demokratie, die sich derzeit von ihrer wehrhaften Seite zeigt.

Was fehlt: Mut und Risikobereitschaft

Eine vergleichsweise gute Ausgangslage also – und doch fehlt der Mut zum Aufschwung. Gegenüber BR24 sehen das alle der gefragten Leibniz-Forscherinnen und Forscher als größtes Problem an. Florian Heider, wissenschaftlicher Leiter des SAFE-Instituts in Frankfurt, das sich mit der nachhaltigen Gestaltung von Finanzmärkten befasst, fordert alle gesellschaftlichen Akteure zu mehr Tatenfreude auf: "Bei Problemen sollten wir nicht sofort in eine Starre fallen, sondern Lecks flicken." Ihm fehlt es an Risikobereitschaft, sagt er. Stattdessen sei die "Vollkasko-Rundum-Wohlfühl-Mentalität" noch viel zu sehr verbreitet.

Und damit stellt sich sofort die Frage: Wie? Wie sollen Lecks geflickt werden? Wie finanzieren wir das? Und wer übernimmt das? Hier müsste laut den Forschenden auf dem Podium des Wirtschaftsgipfels zunächst mal die Politik den Ton angeben. Anstatt im Kleinen die bürokratischen Hürden zu vermehren, brauche es im Großen eine gemeinsame Richtung, einen Schulterschluss, eine Idee und eine Vision seitens der Politik.

Statt aber ein positives Signal zu senden, hat der Bundeswirtschaftsminister gerade seine Wachstumsaussichten nach unten korrigiert und von einer "dramatisch schlechten Lage" in der Wirtschaft gesprochen. Die Korrektur von 1,2 Prozent für das laufende Jahr auf 0,2 Prozent sei auch für die Leibniz-Expertinnen und Experten eine Überraschung gewesen, so Almut Balleer, die das RWI Institut für Wirtschaftsforschung in Essen leitet.

Schulterschluss zwischen Politik und Wirtschaft gefordert

Aber der Fehler liege nicht ausschließlich bei der Politik, so Marcel Fratzscher vom DIW in Berlin. Auch die Unternehmen müssten sich ehrlich machen. Politik und Wirtschaft hätten eine "geteilte Verantwortung", so Fratzscher, "weil die Unternehmen viele Transformationsschritte verschlafen haben." An dieser Stelle mahnte Fratzscher dazu, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und nannte dafür das Klimageld als Beispiel.

Ein weiterer Punkt ist der Transformationsprozess, in dem sich nicht nur die deutsche Wirtschaft befindet, sondern die gesamte Gesellschaft. Wenn Deutschland und Europa zu einer emissionsarmen Wirtschaft gelangen wollen, dann müsse man hinnehmen, dass Unternehmen aus energieintensiven Industrien nach und nach verschwinden, sagte Clemens Fuest vom ifo-Institut bei der Debatte. Deshalb sei es auch notwendig, Subventionen nur dort einzusetzen, wo sich eine wirtschaftliche Zukunft auftut.

Einstiegshilfe könnte der europäische Markt sein

Und noch etwas war allen Panel-Beteiligten wichtig: Es brauche dringend Investitionen in Infrastruktur, Bürokratie-Abbau und vor allem in Bildung. Florian Heider vom SAFE-Institut fasste das gegenüber BR24 so zusammen: "Wir sehen jetzt all die Bruchlinien auf einmal, die vorher nicht so aufgefallen sind." Und weil es so viele sind, erscheine die Situationen vielen wie eine Krise. Dabei gebe es schlicht sehr viel zu tun, was lange nicht angepackt wurde.

Heider fügt dem noch einen Punkt hinzu, der aus seiner Sicht den Neustart erheblich erleichtern könnte: "Wir haben den besten Markt, den es gibt, direkt vor der Nase: den europäischen. Es fehlt eine Vision für den europäischen Markt."

💡 Was sind die Leibnitz-Wirtschaftsinstitute?

Die Leibniz-Gemeinschaft trägt 96 Einrichtungen aller möglichen Forschungsdisziplinen. Sieben davon haben sich den Wirtschaftswissenschaften verschrieben, jedes dieser Leibniz-Wirtschaftsinstitute hat einen anderen Forschungsschwerpunkt: In Frankfurt beispielsweise, am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE, befasst man sich mit nachhaltigen Finanzsystemen. In Kiel am ifw liegt der Schwerpunkt auf Globalisierungsthemen und am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen auf der empirischen Makro-Ökonomie. Auch das ifo-Institut in München gehört zum Leibniz-Pool, hier versucht man vor allem, Wirtschaftsforschung mit Wirtschaftspolitik zu verknüpfen.

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