Ein ukrainischer Soldat sitzt zwischen Waffen auf dem Boden
Bildrechte: Reuters/Viacheslav Ratynskyi

Ein ukrainischer Soldat sitzt zwischen Waffen auf dem Boden

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Gerät die ukrainische Gegenoffensive zum Abnutzungskrieg?

Mehr als zwei Monate sind seit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive vergangen. Die Anzeichen mehren sich, dass die ukrainischen Streitkräfte kaum die russischen Verteidigungslinien durchbrechen können. Droht ein Abnutzungskrieg? Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

"Unsere Briefings sind ernüchternd" - das hat der US-Kongressabgeordnete Mike Quigley nach seiner Rückkehr von Gesprächen mit amerikanischen Kommandeuren in Europa vor wenigen Tagen gegenüber CNN zu Protokoll gegeben. Ob die ukrainischen Streitkräfte in den kommenden Wochen in der Lage sein werden, nennenswerte Geländegewinne zu erzielen, stößt in Kreisen westlicher Militärexperten und Politiker zunehmend auf Skepsis.

"Dass sie wirklich Fortschritte machen, die das Gleichgewicht dieses Konflikts verändern würden, halte ich für sehr, sehr unwahrscheinlich", zitiert der US-Nachrichtensender CNN einen hochrangigen westlichen Diplomaten ohne Namensnennung. Lang ist die Liste der militärischen Herausforderungen, denen sich die ukrainischen Streitkräfte zwei Monate nach Beginn ihrer Offensive zur Rückeroberung ihrer von Russland besetzten Landesteile gegenübersehen.

Drei Stoßrichtungen – geringe Geländegewinne

Auf drei Frontabschnitte haben die ukrainischen Streitkräfte seit Anfang Juni ihre Gegenoffensive konzentriert: auf Bakhmut, auf Ortschaften in Richtung der Hafenstadt Berdyansk sowie auf Dörfer in Richtung Melitopol. Während die Kämpfe um Bakhmut dem Ziel dienen, möglichst viele russische Einheiten dort zu binden, haben die Vorstöße an den beiden südlichen Frontabschnitten den Zweck, zu den ersten russischen Hauptverteidigungslinien vorzurücken.

Die stark ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen und unzähligen Minenfelder machten einen schnellen Vorstoß unrealistisch, gibt die Schweizer Neue Zürcher Zeitung (NZZ) die Einschätzung des ukrainischen Heeres-Kommandeurs Olexander Sirski wieder. Bereits wenige Wochen nach Beginn der Gegenoffensive mussten die ukrainischen Streitkräfte ihre Vorgehensweise deutlich verändern. Zu verlustreich waren die Einsätze größerer Kampfverbände. Nach Schätzungen westlicher Militärexperten hat die Ukraine in diesen ersten Wochen zwischen 20 und 30 Prozent des aus dem Westen stammenden Militärgeräts eingebüßt. Seitdem operieren die ukrainischen Verbände in kleineren Einheiten, die oftmals aus einigen Dutzend Soldaten bestehen, um die Unzahl russischer Minen aus dem Weg zu räumen und erst dann mit weiteren Einheiten vorzurücken.

Keine Luftunterstützung

Immer deutlicher spüren die ukrainischen Einheiten die spärliche Luftunterstützung durch eigene Kampfflugzeuge. Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden vom Mai, wonach die USA die Ausbildung von ukrainischen Piloten für den Einsatz von F-16 Kampfflugzeugen durch europäische NATO-Staaten unterstützen würden, erweist sich bislang als Hinhaltetaktik. Nach Informationen der Washington Post würden die ersten sechs ukrainischen Piloten erst im Sommer 2024 mit ihrer Ausbildung fertig sein. Für die Ukraine, die seit Beginn des russischen Überfalls moderne westliche Kampfflugzeuge als unverzichtbar für die Verteidigung ihres Landes gegen die Invasionstruppen Moskaus bezeichnet, hat die offenkundig bewusste Verschiebung der Pilotenausbildung für den Einsatz von europäischen F-16 Jets schwerwiegende Folgen.

Ohne eine moderne Luftwaffe, so stellt der ukrainische Oberbefehlshaber, General Walerij Saluschnyj, klar, könnten die westlichen Verbündeten von der Ukraine nicht erwarten, großangelegte Gegenoffensiven durchzuführen. Nüchtern heißt es dazu aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium: "Bei den F-16 handelt es sich um unsere langfristige Verpflichtung gegenüber der Ukraine." Die F-16 Kampfflugzeuge stellten eine "Fähigkeit dar, die für die aktuelle Gegenoffensive nicht relevant sein wird", so Pentagon-Sprecher Patrick Ryder.

Flugabwehr durch russische Angriffe auf Städte gebunden

Zudem muss ein Großteil der Flugabwehr-Geschütze zum Schutz der Zivilbevölkerung der großen Städte vor den tagtäglichen russischen Angriffen mit Mittelstreckenraketen und Drohnen eingesetzt werden. Für die Deckung der kämpfenden Verbände an den Frontabschnitten vor russischen Kampfhubschraubern und Kampfflugzeugen sind nicht genügend Flugabwehr-Geschütze vorhanden. Den niedrig anfliegenden russischen Kampfhubschraubern, die die ukrainischen Einheiten an den Frontabschnitten beständig attackieren, hätten die ukrainischen Streitkräfte nichts entgegenzusetzen.

Ukrainische Drohnenangriffe und Mittelstreckenraketen

"Der Krieg kehrt langsam nach Russland zurück", kündigte der ukrainische Präsident Selenskyj Ende Juli an. Damit dürfte er auf den zunehmenden Drohneneinsatz auf Ziele in der russischen Hauptstadt angespielt haben. So sind nach Angaben der New York Times innerhalb der vergangenen drei Wochen zwölfmal Drohnen über Moskau abgefangen worden. Zuletzt am Mittwoch dieser Woche. Die Intention Kiews ist klar: Die Zerstörungen des Krieges, die Russland in der Ukraine jeden Tag verursacht, dürften nicht allein auf ukrainisches Territorium beschränkt bleiben. Es sei ein "unausweichlicher, natürlicher und absolut gerechter Vorgang", den Krieg nach Russland zu tragen, so Selenskyj.

Weitaus schwerwiegendere Folgen hat der Einsatz von Mittelstreckenraketen und Marinedrohnen durch die ukrainischen Streitkräfte. Großbritannien hat der Ukraine eine unbekannte Anzahl von sogenannten "Storm Shadow"-Marschflugkörpern geliefert. Frankreichs Präsident Macron kündigte auf dem NATO-Gipfeltreffen in Vilnius Mitte Juli ebenfalls die Lieferung von weitreichenden Raketensystemen an. Mit diesen Waffensystemen zerstören die ukrainischen Streitkräfte nach Informationen westlicher Militärexperten logistische und militärische Ziele in den besetzten Gebieten. Dazu gehören Treibstofflager, Kommandozentralen, Verkehrsverbindungen, wie etwa die Krim-Brücken, aber auch größere Waffendepots. Meldungen über die tatsächliche Wirkung der ukrainischen Marschflugkörper lassen sich in einigen Fällen verifizieren. Anhand von Satellitenaufnahmen vor und nach einem Angriff auf wichtige Verkehrsknotenpunkte lässt sich der Zerstörungsgrad ermessen.

Warum sich ein Abnutzungskrieg abzeichnet

Mit wesentlichen Durchbrüchen der ukrainischen Streitkräfte durch die vielfach befestigten russischen Verteidigungslinien im Süden und Südosten des Landes kann angesichts der großen Herausforderungen der Truppen derzeit nicht gerechnet werden. Es dürfte sich vielmehr ein langwieriger Abnutzungskrieg abzeichnen, dessen Ausgang unter anderem von der Bereitschaft der westlichen Verbündeten abhängen wird, der Ukraine dauerhaft zur Seite zu stehen.

Zum Video: Soll die Ukraine aus Deutschland Taurus-Marschflugkörper zur Verteidigung gegen Russland bekommen?

Soldaten hantieren an einem Flugzeug der Luftwaffe Der Marschkörper Taurus wird vom Flugzeug aus in Bewegung gesetzt.
Bildrechte: BR
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Soll die Ukraine aus Deutschland einen weitreichenden Bunkerknacker zur Verteidigung gegen Russland bekommen? Die Debatte nimmt Fahrt auf.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!