Grand Canyon National Park vom Flugzeug aus.
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Die schiere Weite des Grand Canyon löse ein Gefühl der Erhabenheit aus: Osteuropa-Experte Karl Schlögel in "American Matrix"

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Vermessung der USA: "American Matrix" von Karl Schlögel

Was haben der Grand Canyon, das College Campus und der Wolkenkratzer gemeinsam? Das Versprechen des American Way of Life, das die USA groß machte. Karl Schlögel erzählt die Geschichte der USA im 20. Jahrhundert - anhand von Orten.

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28. August 1963: Martin Luther King spricht in Washington vor mehr als 250.000 Menschen. Der bis heute berühmteste rhetorische Refrain seiner Rede ist das "I have a Dream", zum Schluss aber kommt noch ein anderer: "Let Freedom ring" – lasst, ruft der Pastor aus, den Klang der Freiheit erklingen, in New York, in Pennsylvania, und ja, auch im Süden.

An der Landkarte der Diskriminierung malt King seine Utopie der Gleichheit aus, und was er dabei heraufbeschwört, ist eine Art Pathosgeografie der Nation. Die interessiert auch Karl Schlögel in seinem neuen Buch "American Matrix". Bekannt geworden ist Schlögel als Kenner der osteuropäischen Geschichte, nun legt er 800 Seiten über die USA vor. Auch, um der eigenen Faszination für dieses Land nachzugehen, das er 1970 zum ersten Mal bereist hat.

Schlögel erzählt nicht chronologisch, sondern anhand von Orten

Persönliche Eindrücke spielen also eine Rolle, dennoch schreibt Schlögel sein Buch als Historiker. Mit einer ungewöhnlichen Methode: Er zeichnet nicht die zeitliche Abfolge nach, sondern erarbeitet sich Orte, Landschaften, Gebäude - amerikanische Ikonen: Wolkenkratzer und Vorstädte, die Mall, das Motel und den College-Campus. Erhabene Natur wie den Grand Canyon und gigantische Werke der Naturbeherrschung wie den Hoover-Staudamm am Colorado River. Die "Matrix" im Buchtitel bezieht sich auf die räumliche Organisation des Kontinents, die in Stadtgrundrissen, Countygrenzen und Staaten einem geometrischen Raster folgt. Dieses Raster stammt aus der Frühzeit der USA – der Landnahme durch Vermessung.

Brutale Vergangenheit und der Weg in die Moderne

Zu dieser Vermessung des Kontinents gehöre eben auch die dunkle Seite, sagt Schlögel: "Die Auslöschung des Vorkolumbianischen, des 'Native American', die Gewalt, die in dieser Prägung steckt." Auch von dieser Gewalt schreibt Karl Schlögel, vom Ursprung des "american way of life" im Siedler-Kolonialismus. Ausführlicher jedoch beschreibt sein Buch einen Aufbruch in die Moderne. Einen, der von der Erschließung des riesigen Territoriums geprägt bleibt. Der legendäre Greyhoundbus, das System der Highways, Eisenbahnen und Flughäfen: Nordamerika war immer ein Labor der Mobilitätstechniken und der Mobilitätskultur.

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Der Historiker Karl Schlögel hat das Buch "American Matrix“ geschrieben.

Eine bemerkenswerte Fülle von Quellen

Vom amerikanischen "schneller, höher, weiter" lässt sich Karl Schlögel spürbar beeindrucken. Sein Band kommt selbst fast monumental daher, ist aber erstaunlich zugänglich und in überschaubare Kapitel gegliedert, die sich gut einzeln lesen lassen. Wenn man das tut, dürften auch die Wiederholungen nicht ins Gewicht fallen, die ein Lektorat hätte glätten müssen.

Karl Schlögel bearbeitet eine bemerkenswerte Fülle von Quellen und entwickelt einen insistierenden Stil, der nicht unbedingt auf fixe Thesen hinauswill. Und: Schlögels Buch erzählt von einer zu Ende gegangenen Epoche, es sitzt also eine Portion Nostalgie in der Hingabe und Genauigkeit seiner Methode. Für die Erkundung des digitalen Raums etwa sei er nicht mehr der Richtige, konstatierte der Autor bei der Buchpremiere im Münchner Literaturhaus. Die großen amerikanischen Innovationen, die das Silicon Valley hervorbringe, müsse er "als Mensch aus einem vergangenen Jahrhundert" zwar beobachten, aber "ich betrachte mich nicht mehr als Zeitgenossen dieses nächsten Schubes".

"American Matrix. Besichtigung einer Epoche" von Karl Schlögel ist im Hanser Verlag erschienen.

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