Emmanuel Carrère
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"V 13": Emmanuel Carrères Bericht über den Bataclan-Prozess

Fast zehn Monate lang verfolgte der französische Schriftsteller täglich die juristische Aufarbeitung der Bataclan-Attentate. Sein Bericht "V 13" macht aus einem Moloch von Entsetzen und Details eine große gemeinsame Erzählung.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

130 Tote, 1.800 Nebenkläger, fast zehn Monate Prozessdauer, 542 Bände Ermittlungsakten, 378 Seiten Anklageschrift. Auf der Anklagebank: Helfer, die nicht die eigentlichen Mörder sind, denn die haben sich alle in die Luft gesprengt.

Der Prozessbericht – eine Mammutaufgabe

Was für eine Mammutaufgabe, diesen Prozess zu führen – und was für eine Mammutaufgabe, diesen Prozess zu erzählen! Am Anfang habe er das Ganze vor allem für ein enormes Werbeunternehmen für Justiz und Demokratie gehalten, erzählt Emmanuel Carrère beim Sender "France Inter", aber es sei viel mehr als das geworden. Eine Gemeinschaft sei entstanden – und, schrecklich das zu sagen, es sei auch schön gewesen und sehr bewegend.

Also ging er, der Schriftsteller, der sich nicht als Journalist sieht, fast zehn Monate lang jeden Tag in die sogenannte weiße Kiste, die im Pariser Palais de Justice extra für den Prozess um die Anschläge vom 13. November 2015 erbaut wurde. An diesem Tag wüteten islamistische Attentäter in Paris im Musikclub Bataclan, auf Restaurantterrassen des 11. Arrondissements und vor dem Stade de France, in dem Frankreich gegen Deutschland spielte.

Eine Mischung aus Essay und Reportage

Der Prozess gegen die Überlebenden des Kommandos unter Anhörung von fast 2.000 Opfer-Angehörigen und Verletzten fand zwischen September 2021 und Juni 2022 statt. Carrère hatte dem Nachrichtenmagazin "L’Obs" eine wöchentliche Kolumne angeboten, auf deren Grundlage dann sein Buch entstand. Es heißt "V 13" nach der Abkürzung, die sich für diesen Mammutprozess eingebürgert hat – für "Vendredi 13", Freitag, der Dreizehnte.

Carrère bekam Albträume und manchmal brach er zu Hause in Tränen aus, das erwähnt er schon. Aber während es in vielen anderen seiner Bücher vor allem um den Autor geht, ist "V13" kein Selbsterfahrungsbuch. Trotzdem ist die Mischung aus Reportage und Essay sehr persönlich.

Zwischen Drama und Komik

Er beschreibt, wie er in Beziehungen zu einigen Angehörigen hineinwächst, wie er der Logik der Attentäter nachgeht, die sich im Krieg mit Frankreich sehen, wie er sich mit der schwierigen Rolle der Anwälte der Verteidigung auseinandersetzt. Immer elegant, oft smart, manchmal sarkastisch, manchmal pathetisch formuliert, erzeugt "V 13" einen Lese-Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Dass die Opfer gehört werden, das stellt dieses Buch immer wieder heraus als die am Ende wichtigste Funktion des Prozesses "V 13": Dass sie sich gegenseitig zuhören und manchmal unterstützen können und gemeinsam durch das gehen, was Carrère an einer Stelle als "ungeheure Psychotherapie mit der Grausamkeit eines Castings" beschreibt.

"Es ist der 13. Tag, der den Überlebenden und den Opfern aus dem Bataclan gewidmet ist, fünf weitere stehen noch aus. Wir haben fast 200 Zeugenaussagen gehört. 80 Nebenkläger sind in den letzten Wochen noch dazugekommen, sie stehen auf einer Warteliste und müssen irgendwann auch noch angehört werden. Wir sind am Ende. Zu viel Leid, zu viel Horror." Carrère in "V 13"

Dramatisch sind vor allem die Anhörungen der Opfer. Dagegen scheinen die Verhandlungstage, die den Angeklagten gewidmet sind, viel banaler und praktischer. Manchmal, sogar das, tatsächlich komisch. Nach dem Beruf fragt der Vorsitzende Richter, Antwort: "Kämpfer des Islamischen Staates", Vorsitzender: "Bei mir steht Zeitarbeiter."

Erschütternd und erhellend zugleich

Wer reiste über welche Route ein, wer mietete Wagen und Wohnungen, wieso entschieden sich zwei aus dem ursprünglichen Todeskommando anders? Ist es gerecht, die Höchststrafe zu verhängen für einen, der hätte morden sollen, es aber dann nicht tat? Ja, die klassische Frage nach der Gerechtigkeit des Urteils, sie wird in diesem Buch ein bisschen gestreift, aber wirklich wichtig ist sie dem Autor nicht. An erster Stelle sollen, anders als in vielen anderen Gerichtsreportagen, die Opfer stehen. Nicht die Täter.

Die zahllosen juristischen Details werden Nicht-Fachleuten bald wieder entfallen. Aber Emmanuel Carrères Text – der mit 270 Seiten übrigens überschaubar lang ist – bildet in Frankreich schon jetzt die Grundlage für die gemeinsame große Erzählung des großen Prozesses, der französischen Antwort auf die Katastrophe der Anschläge. In Claudia Hamms bewährter und feinsinniger Übersetzung liest sich das für deutsche Leser und Leserinnen hoch spannend, erschütternd und erhellend zugleich.

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